12. Juli 2018, Brüssel
Balázs Beregi: Herr Ministerpräsident, nach dem ersten Tag hat der NATO-Generalsekretär die Lage dahingehend gewertet, dass es zwar unterschiedliche Meinungen, Diskussionen gibt, aber auf dem NATO-Gipfel sei es gelungen, die wichtigen Entscheidungen zu fällen. Und tatsächlich, äußerst viele Informationen sind durchgesickert, die auf eine zugespitzte Debatte hindeuteten. Wie ist es auf dem NATO-Gipfel gelungen, diese beinahe schon vorhandene Spaltung zu überwinden?
Wenn ich will, dann ist das Glas halb leer, wenn ich will, ist es halb voll. Ich war auch vor einem Jahr auf dem NATO-Gipfel dabei. Das war damals so eine Art improvisierter Gipfel, nicht so eine zweitägige, gut vorbereitete Sitzung, wie die jetzige. Damals kam der neue amerikanische Präsident das erste Mal hierher zu uns. Die Stimmung jenes Gipfels war rau, ich könnte sagen „schleifpapierartig“. Verglichen mit dem, wie wir vor einem Jahr dastanden, zeigt unsere Gesellschaft, also die Gesellschaft der Staats- und Regierungschefs, der führenden Politiker Anzeichen dafür, dass sie den gemeinsamen Ton finden. Ich hatte also den Eindruck, dass im Vergleich zu jenen vor einem Jahr die gegenwärtigen Konflikte kleiner waren, das heißt die Unterschiede abgenommen haben und die Eintracht zugenommen hat. Ich betrachte also den jetzigen Gipfel als einen wichtigen Schritt in Richtung auf die Einheit der NATO, die führenden Politiker der die beiden Pfeiler der NATO stellenden Länder, einerseits die Nordamerikaner und andererseits wir, Europäer, beginnen einen gemeinsamen Ton zu finden. Wir haben wichtige Entscheidungen gefällt, diese zeigen tatsächlich die Einheit, und es sind auch Meinungsunterschiede bestehen geblieben. Hier geht es am ehesten darum, dass die Amerikaner mit gut durchdachten Argumenten und energisch dafür argumentieren, dass jeder seine Verteidigungsausgaben erhöhen, mehr für Waffen, die Armee, die Sicherheit ausgeben soll. Hierbei besteht ein berechtigtes Bedürfnis, denn heutzutage ist in der Welt die Sicherheit die wichtigste Sache, und die größte Gefahr stellt eben der Verlust der Sicherheit dar. Ungarn ist eines der sichersten Länder der Welt, deshalb müssen wir besonders darauf achten, dass wir das, was wir uns geschaffen haben, nicht verlieren. Also unterstützen wir jene Forderung des amerikanischen Präsidenten, dass auch die europäischen Länder die Armeen und die Sicherheit angemessener, also mit einer höheren Summe unterstützen sollen. Damit sind nicht alle europäischen Länder einverstanden. Was sagt in solch einer Situation ein Amerikaner? Er sagt: „Gut, dann gebt nicht zwei Prozent aus, sondern vier!“ Wir befinden uns jetzt also in der Phase, in der wir nicht einmal die zwei Prozent erreicht haben, das heißt nicht alle zwei Prozent ihres Bruttonationaleinkommens für die Sicherheit verwenden, und der Amerikaner spricht schon von vier. Konflikte solchen Typs gab es, aber es gab keine Diskussion in der Frage der Richtung, der Absicht, der Strategie.
Die NATO hat zwei strategische Richtungen diskutiert, aus denen potenzielle Bedrohungen kommen können, und die östliche Richtung ist die eine, die südliche ist die andere. Um ein östliches Land, Russland, hat sich die NATO bereits früher gekümmert. Inwieweit ist Ungarn mit den Schritten und Entscheidungen in die südliche Richtung zufrieden? Denn hierbei geht es um die Infiltrierung durch den Terrorismus aus dem Nahen Osten, aus Nordafrika, beziehungsweise auch noch um die Vernunft…
Wir sprechen über die Gefahren aus dem Osten und dem Süden, doch wir müssen wissen, dass sich die Charakterzeichungen dieser beiden Gefahren sich wesentlich voneinander unterscheiden. Die östliche nennen wir Russland, und die südliche nennen wir Terrorismus. Das sind Bedrohungen verschiedener Art, zwei unterschiedliche Risiken, zwei unterschiedliche Gefahren für unsere Sicherheit. Was die südliche angeht, ist die Türkei ein Schlüsselland, ohne eine stabile Türkei können wir den Kontinent im Süden nicht vor dem Terrorismus und den Flüchtlingen, den Migranten verteidigen. Hierzu brauchen wir eine starke Türkei, deshalb begrüßt Ungarn, dass es der Türkei gelungen ist, eine Verfassungsreform durchzuführen, die die Türkei stabiler als jemals zuvor machen kann. Das ist die gute Nachricht. Andererseits ist die Ordnung, die Konsolidierung der Kriegsherde, die nicht die einzigen, aber wichtige auslösende Momente für die Migrationskrise sind, der Beginn des Neuaufbaus die andere wichtige Aufgabe, denn der Friede gerät nicht nur auf die Weise in Gefahr, dass es zum Krieg kommt, sondern auch, indem die Voraussetzungen für das friedliche Leben verschwinden, das heißt ein normales menschliches Leben wird unmöglich, und dann machen sich die Migranten auf den Weg und suchen sich ein anderes Land, sagen wir, sie wollen gerade unser Land für ihr Leben in Beschlag nehmen. Dies müssen wir zum einen Teil durch den Schutz der Grenzen verhindern und zum anderen Teil dadurch, dass wir an der Schaffung der Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben teilnehmen. Wir erschaffen sie nicht an ihrer Stelle, denn das, was es umsonst gibt, ist nichts wert, sondern gemeinsam mit ihnen, zusammen konsolidieren wir diese Regionen, und so gelingt es, die die Migration auslösenden Gründe zu verringern.
Es gibt ein Land östlich der NATO, mit dem gerade Ungarn in Diskussionen steht, und gerade heute wird es eine Beratung geben, auf der sich die Staats- und Regierungsoberhäupter der NATO mit der Lage der Sicherheit der Ukraine und Georgiens in der Anwesenheit der führenden Politiker dieser beiden Länder beschäftigen werden. Gibt diese Beratung Ungarn eine Möglichkeit, erneut vor der Öffentlichkeit dazulegen, welche Probleme es mit der Ukraine hat?
Mit der Annäherung Georgiens an die NATO haben wir keinerlei Problem, wir stimmen dem aufs Entschiedenste zu, so wie wir auch immer Anhänger dessen waren, dass die Verhandlungen mit Mazedonien begonnen werden sollten, der mazedonische Ministerpräsident war gestern auch da. Mit den Ukrainern stehen wir in einer Diskussion, dies ist keine Diskussion zwischen Ungarn und der Ukraine, sondern – wenn man will – dies ist nur die Form der Diskussion, das Wesentliche der Diskussion ist nicht dies, obwohl für uns, Ungarn, die Ungarn am wichtigsten sind. Vom Gesichtspunkt der NATO aus besteht das Wesentliche der Diskussion darin, dass wenn jemand einen Vertrag unterschreibt, wie das die Ukrainer getan haben, und in diesem versprechen, sie würden hinsichtlich des Schutzes der Minderheiten von dem erreichten Niveau keine Rückschritte vornehmen, das heißt also, dass es den Minderheiten nicht schlechter gehen sollte wie zuvor, wer also solch ein Versprechen abgibt und solch einen Vertrag unterschreibt, wie ihn die Ukrainer unterschrieben haben, der muss ihn dann einhalten. Das ist keine ungarische Frage, das ist eine Frage dessen, ob man die NATO beim Wort nehmen und ernst nehmen kann, die Frage der inneren Integrität der NATO. Dass der Konflikt auf unserem Rücken ausgetragen wird, darüber sind wir nicht überrascht, denn wir leben an einem Ort der Welt, wo so etwas vorkommt. Hier verknüpfen sich jetzt die Integrität der NATO mit dem Interesse des Schutzes der ungarischen Minderheiten, und deshalb muss ich mich heute zu Wort melden und ich muss im Laufe des heutigen Tages mit Nachdruck sprechen.
Innerhalb der NATO oder innerhalb der Europäischen Union gibt es eine Bestrebung, dass irgendwann in der fernen Zukunft eine gemeinsame europäische Armee entstehen soll. Stört dies die NATO nicht, also schwächt dies nicht die NATO, verursacht dies nicht zum Beispiel Spannungen zum Beispiel innerhalb der transatlantischen Zusammenarbeit?
Ungarn befürwortet die Aufstellung einer gemeinsamen europäischen Armee und zwar nicht in der fernen Zukunft, sondern möglichst schnell. Dies stellt natürlich auch einen komplizierten Fragenkreis des militärischen Kommandos dar, in dem wir Antworten auf die Frage finden müssen, wie man gemeinsam etwas leiten kann, das klassischerweise desto besser funktioniert, je zentraler es geleitet wird, die Armee ist so eine Sache. Man muss also keine kleine Aufgabe lösen, das Problem der Leitung der gemeinsamen Armee ist eine ernsthafte fachliche Aufgabe. Für uns ist das keine Neuheit, denn wir waren in der Österreichisch-Ungarischen Monarchie schon Teil einer gemeinsamen Armee, und auch damals gab es einen Mechanismus dafür, wie man eine gemeinsame Armee leitet, wie man kommandieren muss. Wir verfügen also über ein Wissen, das wir in die gemeinsame Sache einbringen können. Deshalb unterstützen wir die Gründung einer gemeinsamen europäischen Armee, denn wenn jemand nicht seine eigene Sicherheit kontrolliert, sie nicht aus eigener Kraft zu schaffen in der Lage ist, dann kann er auch auf anderen Gebieten des Lebens ausgeliefert werden. Deshalb ist es im Interesse Europas, eines echten, unabhängigen Europas, über eine eigene Armee zu verfügen. Deshalb ist es übrigens wichtig, dass alle europäischen Staaten, auch die Deutschen, sich bemühen sollten, eine möglichst große Summe für die Aufstellung einer gemeinsamen Armee auszugeben. Und ob dies einen Konflikt mit der NATO bedeutet, ist eine Frage der Absicht und der Intelligenz, denn wir sind ja Verbündete der Nordamerikaner. Wenn sie das nicht als einen gegen sie gerichteten Schritt ansehen, ich würde das an ihrer Stelle nicht als einen solchen betrachten, so wie auch wir die Position einnehmen, dass wenn eine gemeinsame europäische Armee zustande kommen sollte, dann immer noch die strategische Bedeutung der Zusammenarbeit mit den Amerikanern erhalten bleibt. Also wenn ausreichend Intelligenz vorhanden ist, dann kann ein auf zwei Pfeilern ruhendes Sicherheitssystem funktionstüchtig gehalten werden.
Zum Abschluss noch eine Sache, die nicht ganz hierher gehört. Nachdem auf der Fußballweltmeisterschaft der Brexit verwirklicht worden ist, was für ein Ergebnis erwarten Sie im Finale?
Ungarn war immer Teil der Fußballkultur entlang der Donau, deshalb gehört der Erfolg der Kroaten natürlich immer noch den Kroaten, aber ein bisschen haben wir das Gefühl, dass darin auch wir enthalten sind, denn das ist ja auch der Triumph der Region, auch wenn man jetzt die kroatische Fahne hochhalten muss. Ich drücke ihnen aus ganzem Herzen die Daumen, nicht nur, weil die Kroaten unsere Freunde und Nachbarn sind, sondern auch deshalb, weil sie die Fußballkultur vertreten, zu der auch wir gehören, auch dann, wenn wir nicht das Niveau erreichen, ja uns nicht einmal dem Niveau annähern können, zu dem die Kroaten fähig sind, doch stammt dies „aus dem gleichen Wurf“ wie wir.
Vielen Dank!