6. Juni 2020, Sátoraljaújhely
Wir kennen die Stationen. Wir kennen auch die Stationen des Ungarischen Leidensweges in Sátoraljaújhely. Trotzdem beschreiten wir erneut den Kreuzweg. Wir wollen Medizin, Trost, Hoffnung und Ermunterung. Wir wissen, dass wir diese nur am Ende des Kreuzweges erhalten können. Nur so und nur hier können wir uns über die Schmerzen erheben. Wir müssen dorthin hinaufgelangen, wo alles erleuchtet sein wird und alles einen Sinn gewinnt. Wir müssen dorthin hinaufgelangen, von wo aus wir die Zukunft erblicken können. Deshalb sind wir heute hier.
Der historische Horizont der Ungarn erstreckt sich in der Höhe von tausend Jahren. Von hier aus kann man sich umsehen, man sieht weit von hier. Rechts liegt Kassa, Szatmárnémeti in der Richtung, hinter uns Munkács. Wenn wir nicht mit unseren Augen blicken, sondern mit unserem Herzen, dann können wir auch noch weiter sehen. Zurück bis ganz zum Anfang der Zeiten. Wir sehen, wie in den Staubwolken der Geschichte Hunderte der wandernden Völker der Steppe verschwinden und untergehen. Wir sehen, dass wir, Ungarn, weder verschwunden noch untergegangen sind, sondern im Ring der lateinischen, germanischen und slawischen Völker unsere alleinstehende Qualität bewahrend eine Heimat gegründet haben. Wir haben unser Herz für das Christentum geöffnet, wir haben das Wort Gottes gehört, wir haben es befolgt und zur Grundlage unserer Staatsorganisation gemacht. Wie es in den „Mahnungen“ des Heiligen Stephan zu lesen steht: „Präge es in Deine Erinnerung ein, dass jeder Mensch im gleichen Zustand geboren wird, und nichts erhebt, außer der Demut, und nichts hinabstößt, als nur Hochmut und Hass.” Unsere Heimat steht auch heute auf diesem Fundament. Das Anstürmen des westlichen Imperiums haben wir in der Regel zurückgeschlagen. Von den Schicksalsschlägen durch die Heiden aus dem Osten haben wir uns erholt. Uns gelang, was den anderen Steppenvölkern nicht gelungen ist. Wir haben uns unseren Platz in Europa erkämpft, ihn uns organisiert, ihn uns angepasst und ihn behalten. Über vierhundert Jahre, eine viermal den Zeitraum von Trianon ausmachende Zeitspanne hindurch war der ungarische Staat stark und unabhängig. Danach haben wir dreihundert Jahre hindurch, über einen Zeitraum von dreimal Trianon, gegen das Osmanische Reich gekämpft. Tief inmitten des Balkan, dann an den Südgrenzen, schließlich – zurückweichend – im Herzen des Karpatenbeckens. Und obwohl Buda über einen Zeitraum von anderthalb Trianon in türkischer Hand war, konnten sie uns trotzdem nicht überrennen. Dann traten wir nach zweihundert Jahren, die durch niedergeschlagene Aufstände und Freiheitskämpfe beschwert waren und eine Zeit doppelt so lang wie Trianon ausmachten, trotzdem als eine mitregierende Nation eines großen europäischen Reiches durch das Tor des 20. Jahrhunderts.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Obwohl im Laufe von Jahrhunderten Hunderttausende von Ungarn auf den Schlachtfeldern gefallen sind, konnte die ganze Welt sehen, dass die ungarische Nation weder durch die Kugel noch durch das Eisen des Schwertes bezwungen werden kann. Wenn sie auch von den Beinen gebracht wird, so steht sie immer wieder und wieder auf. Wir sind eben am Platz der Ungarischen Mütter vorbeigegangen. Auf dem Kalvarienberg der Ungarn gehört den Frauen ein gesonderter Platz. Das ist auch gut so, denn immer waren es die Frauen, die die Blutverluste ersetzt haben. Sie haben der Heimat das eine Mal Armeen von die Heimat verteidigenden Soldaten und das andere Mal Heere von das Land aufbauenden Meistern gegeben. Sie gaben immer das, was gerade benötigt wurde. Wir haben es unseren Frauen zu verdanken, dass sich die Kunst des Überlebens und des Aufbaus des Landes in unseren Genen befindet. Ihnen haben wir es zu verdanken, dass wir die europäischen Meister des Überlebens sind. Ehre den ungarischen Frauen!
Sehr geehrte Gedenkende!
Wir sind weder eine deutsche Provinz noch ein türkisches Vilâyet und auch keine der sowjetischen Republiken geworden. Die unauslöschlichen Beweise, Kirchen und Kathedralen, Städte und Rathausplätze stehen auch heute noch überall. Sie verkünden, dass wir, Ungarn, eine große, Kultur errichtende und den Staat organisierende Nation sind.
Sehr geehrte Gedenkende!
Schließlich sind dem tausendjährigen Ungarn die Budapester Verschwörungen in den Rücken gefallen. Seine Armee wurde gelähmt und zerrüttet, der einzige zur Rettung des Vaterlandes geeignete Staatsmann wurde ermordet, das Land wurde in die Hände unserer Feinde, die Regierung in die Hände der Bolschewiken übergeben. Der Westen hat die tausendjährigen Grenzen und die Geschichte Mitteleuropas vergewaltigt. Er hat uns zwischen Grenzen gedrängt, die man nicht verteidigen konnte, er hat uns unserer Naturschätze beraubt, uns von unseren Ressourcen abgeschnitten, aus unserem Land einen Todestrakt gemacht. Ohne moralische Bedenken wurde Mitteleuropa neu gezeichnet, so wie auch die Grenzen Afrikas und des Nahen Ostens neu gezogen wurden. Das werden wir ihnen nie vergessen. Und als wir dachten, noch tiefer könnte weder das hochmütige französische noch das britische und auch nicht das scheinheilige amerikanische Reich sinken, ging es doch noch weiter nach unten. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie uns ohne jeden Herzschmerz den Kommunisten vorgeworfen. Die Polen, die Tschechen, die Slowaken erhielten das als Belohnung, was wir zur Strafe bekamen. Möge das eine ewige Lehre für die mitteleuropäischen Völker sein!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Es haben sich schon viele gemeldet, dass sie Ungarn gerne begraben würden. Es gab jene, die die Deutschen eines Verbündeten berauben wollten, es gab jene, die sich an den Habsburgern rächen wollten, und es gab jene, die durch die Hoffnung auf Beute geleitet wurden, und es gab jene, die die Ungarn schon immer gehasst hatten. Sie haben sich aneinander geklammert, um uns von der Oberfläche der Erde verschwinden zu lassen. Doch sind wir ein hartnäckiges Volk, wir waren zu keiner Zeit bereit, an unserem eigenen Begräbnis teilzunehmen. Auch unsere Urgroßväter haben nicht aufgegeben. Sie haben sich nicht hingekniet und haben nicht um Gnade gebeten. Wir sind aufrecht stehengeblieben und haben es ausgehalten. Wir haben die Städte aus Waggons, die Lager der Nazis, den Gulag der Sowjets, die Aussiedlungen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Ceauşescu ausgehalten. Heute gibt es weder die Tschechoslowakei noch Jugoslawien und auch die Sowjetunion existiert nicht mehr. Und was von ihnen übriggeblieben ist, das sieht sich gefangen im multikulturellen Griff ihrer sich an ihnen rächenden Kolonien. Dem für Gerechtigkeit sorgenden Gericht der Geschichte können nicht einmal die Größten entgehen. Und so, wie es wahr ist, dass das zusammenwächst, was zusammengehört, genauso ist es wahr, dass das, was nicht zusammengehört, auch auseinanderfällt. Sehr richtig sagte man vor hundert Jahren: Wir werden auf der Beerdigung jener dabei sein, die uns in ein Grab legen wollten. Wir, Ungarn, bleiben aber, wie auch immer sich der Wind drehen mag. Wir bleiben, weil wir zu Hause sind. Wir sind zu Hause, und deshalb bleiben wir. Das Ungarntum zieht sich – wie das menschliche Herz – einmal zusammen, dann dehnt es sich, doch lebt es im Wesentlichen seit Tausend und Einhundert Jahren dort, wo unsere großen Staatsgründer seinen Platz festgelegt haben. Wir bewahren das Karpatenbecken mit Würde, was auch unsere Mission ist. Jedes auf die Welt kommende ungarische Kind ist auch ein neuer Posten. Wir zerstückeln das Karpatenbecken nicht, wir quälen es nicht, wir bieten es nicht zum Ausverkauf an, sondern erhalten es. Wir müssen mit dem Selbstvertrauen und der Haltung eines Volkes leben, das weiß: Es hat der Welt mehr gegeben, als es von der Welt bekommen hat. Unsere Leistung berechtigt uns zur Fortsetzung unserer Geschichte. Und wir, die Menschen von heute, müssen auch wissen, dass wir auch schon nachteiligere Grenzen hatten, trotzdem sind wir hier.
Sehr geehrte Gedenkende!
Statt der Tschechoslowakei und statt Jugoslawiens haben wir Slowaken, Slowenen, Kroaten und Serben erhalten. Mit der Slowakei, mit dem Serbien, mit dem Kroatien und dem Slowenien, das stolz auf seine nationale Beschaffenheit ist, errichten wir mit Freude die gemeinsame Zukunft. Die Geschichte hat die Chance geboten, vielleicht die letzte, dass die mitteleuropäischen Völker eine neue Periode eröffnen, um sich gegenüber der aus dem Westen und Osten drohenden Gefahr zu verteidigen und gemeinsam den Aufstieg zu schaffen. In den vergangenen zehn Jahren haben wir unseren Nachbarn bewiesen, dass wenn sich die Lebenskraft der Teile der ungarischen Nation addiert, dies nicht nur für uns gut ist, sondern auch für sie. Nur der Staat besitzt Grenzen, die Nation nicht. Das ist das Gesetz. Manche haben es begriffen und manche nicht. Jene, die es noch nicht getan haben, täten besser daran, sich zu beeilen, denn ihre Zeit wird knapp.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Eine tausendjährige Geschichte steht hinter uns, deshalb erheben wir uns über die Grenzen des hier und jetzt. Wir sehen in Pozsony Bratislava und in Kolozsvár sehen wir Cluj. Wir sehen es, denn wir betrachten die Welt ungarisch. Wir sehen – wie der Dichter Gyula Illyés formulierte – die Heimat in der Höhe, aber wir sehen sie auch unter den Grashalmen. Wenn man ungarisch sieht, dann akzeptiert man, dass der Slowake ein Slowake und der Rumäne ein Rumäne bleibt. Wir sehen an unseren Nachbarn, was uns voneinander trennt, aber auch das, was uns verbindet. Wer die Welt ungarisch betrachtet, der sieht mit den Augen des Heiligen Stephan. Das 21. Jahrhundert mit den Augen des Heiligen Stephan zu sehen bedeutet, dass wir das Karpatenbecken mit den mit uns zusammenlebenden Völkern groß machen möchten. Inzwischen sind wir wieder das bevölkerungsreichste Land des Karpatenbeckens geworden. Vor hundert Jahren waren wir nicht so stark. Wir bauen Brücken und Eisenbahnstrecken – runter, bis Belgrad, und Autobahnen – hinauf bis nach Kassa. Unsere politische, geistige, wirtschaftliche und kulturelle Anziehungskraft wächst von Tag zu Tag. Die Rückwanderung der Ungarn hat begonnen. Im Vergleich zu Westeuropa sind wir eine Insel des Friedens und der Sicherheit. Und damit dies so bleibt, wird auch die neue ungarische Armee aufgebaut. Die Stärke ist mit Verantwortung verbunden, und wir sind uns über das Gewicht unserer Verantwortung im Klaren. Das Zeitalter der hundert Jahre Quarantäne, der hundert Jahre Einsamkeit nach Trianon sind zu Ende gegangen. Es ist erhebend, dass wir erneut Verbündete besitzen, wir haben gute Nachbarn, und gemeinsam können wir uns auf die Zukunft vorbereiten.
Sehr geehrte Gedenkende!
Es gibt keine einzige Nation in der Welt, die solche hundert Jahre ausgehalten hätte. Doch ist unsere Art stur, zäh und einfallsreich, deshalb haben wir es nicht nur ausgehalten, sondern es steht heute erneut zu unseren Gunsten. Aus diesem Grund geben wir unserer aus dem tiefsten Herzen kommenden Dankbarkeit und der höchsten Anerkennung für das jahrhundertelange Beharren unserer von Ungarn weggerissenen nationalen Gemeinschaften, für ihre Treue zur ungarischen Nation und zu ihrer Heimat Ausdruck. Zu einer großen Nation kann nur der werden, der seinen eigenen Leidensweg beschreitet. Der, der den Weg der Bedrängnisse kennenlernt. Der die Torturen aushält. Der versteht, dass die Wahrheit ohne Kraft nur wenig wert ist. Die Geschichte ist nicht gnadenreich. Sie verzeiht die Schwächen nicht. Wenn kein Mann auf dem Damm steht, gehen wir verloren. Wenn wir auf die blutleeren Schöngeister hören, gehen wir verloren. Wenn wir den Kräften der Zwietracht nachgeben, gehen wir verloren. Die Ungarn dürfen sich den Luxus der Schwäche nie wieder erlauben. Unser kann immer nur das sein, was wir auch verteidigen können. Das ist das Gesetz und das ist unser Schicksal. Deshalb dauert für uns jedes Match so lange, bis wir es gewonnen haben. Deshalb ist die Geschichte der Ungarn auch weder bei Mohács noch bei Világos und auch nicht in Trianon zu Ende gegangen, und deshalb werden alle Steine der Krone des Heiligen Stephan erneut glänzen.
Sehr geehrte Gedenkende!
In dem kommenden Jahrzehnt wird es nicht um die Abnahme und die Verluste gehen, sondern um den Zuwachs und den Aufbau des Landes. Die Welt ist in Bewegung. Die Veränderungen sind tektonisch. Die Vereinigten Staaten sitzen nicht mehr allein auf dem Thron der Welt, Eurasien wird mit voller Kraft wiederaufgebaut, die Nähte der Europäischen Union drohen zu platzen, und sie hofft sich jetzt mit einem Salto Mortale retten zu können. Unter den Füßen unseres östlichen Nachbarn bebt die Erde. Auch der Balkan ist voll von Fragen, die auf eine Antwort warten. Eine neue Ordnung ist im Entstehen begriffen. Auch in unserer Welt, auch in unserem Leben pochen große Veränderungen laut an unserer Tür. Unsere Gebietsverluste haben wir über Jahrhunderte hinweg als unabwendbare Schicksalsschläge betrachtet. Auch in den vergangenen hundert Jahren. In Ermangelung eigener Kraft habe wir darauf gewartet, dass aus dem Nebel der Legenden ein wunderbares Entsatzungsheer erscheint, das dem Schicksal der Ungarn eine Wende verleiht. Überblicken wir die Geschichte der hundert Jahre. Verstehen wir die Tiefe der Veränderungen der letzten zehn Jahre. Erschrecken wir nicht angesichts dessen, was wir sehen: Wir sind es, auf die wir gewartet haben. Ja, wir sind es, die dem Schicksal Ungarns eine Wende verleihen. Wir können hoffen, dass unsere Generation, die vierte Generation von Trianon, ihre Mission erfüllen wird, und Ungarn ganz bis zum Tor des Sieges führen wird. Doch wird die entscheidende Auseinandersetzung die nach uns kommende, die fünfte Trianon-Generation ausfechten müssen. Die letzten Schritte müssen sie machen. Wie es der Dichter Attila József formulierte: „Überwindet Euch. Und als Erstes beginnt mit der einfachsten Sache – addiert Euch, damit Ihr Euch, auf gewaltige Weise angewachsen, irgendwie an Gott, der die Unendlichkeit ist, annähert.” Es wird weder leicht noch einfach sein, aber es wird sich lohnen. Große Zeiten warten auf Euch. Bereitet Euch darauf vor, bereitet Euch jeden Tag darauf vor. Ungarn vor allen Dingen, der liebe Gott über uns allen.
Vorwärts Ungarn!