17. Oktober 2016, München
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Deutsche Freunde!
„Mit der Freiheit Ungarns steht oder fällt die Freiheit in ganz Europa.“ Mit diesen Worten schloss Weihbischof Dr. Johannes Neuhäusler seine Messe in München, während der ganze Marienplatz von den Glocken des Domes sowie der Sankt-Peter-Kirche widerhallte, und eine gewaltige Menschenmenge mit Transparenten und Fackeln zum Rathaus zog. Nach der sowjetischen Intervention in Ungarn versammelten sich hier in München, am 6. November 1956, auf dem Königsplatz 60 Tausend Menschen, um im Rahmen eines stummen Marsches der im Kampf für die Freiheit gefallenen Ungarn zu gedenken. Und als aufgrund der brutalen sowjetisch-kommunistischen Vergeltung der militärische, der bewaffnete Widerstand schon unmöglich geworden war und viele Ungarn ihren Weg in den Westen zu nehmen begannen, haben Sie, Bayern, ihnen Hilfe geleistet, und sie haben diszipliniert und in Ordnung die Entscheidung der bayerischen Behörden abgewartet. Viele von ihnen haben Sie auch aufgenommen, die dann zu das Gesetz achtenden, fleißigen und hingebungsvollen Bürgern des christlichen Bayerns, zu guten Deutschen geworden sind. Wir werden dies nie vergessen. Danke, Bayern!
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ungarn ist ein tausendjähriger christlicher Staat, der schon immer der Boden der Freiheitskämpfer war. Es duldet weder die Unterdrückung noch duldet es die Besatzung und auch nicht die Diktatur. Ich versichere Ihnen, Ungarn wird auch in der Zukunft immer auf der Seite der europäischen Freiheit stehen. Ich bin stolz darauf, Sie als Ministerpräsident einer Nation grüßen zu dürfen, die 1956 noch mutiger als die Mutigen war.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident!
Der Satz des bayerischen Weihbischofs über den Zusammenhang zwischen der ungarischen und der europäischen Freiheit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten bewahrheitet. 1956 haben die sowjetischen Panzer die ungarische Freiheit niedergewalzt und in den schlammigen Boden gestampft. Die militärische Intervention der kommunistischen Diktatur war damals die Niederlage ganz Europas. Die Gefangenschaft auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhanges hat auch den Westen in Ketten gelegt. Wir alle haben es gewusst und gespürt, dass Europa nur vereint werde frei und stark sein können. Diese Einsicht gebar den großartigen Gedanken der Europäischen Union, und nachdem die ungarische Revolution in Blut erstickt worden war, wurden auch die Römischen Verträge abgeschlossen. Genau die gleiche Erkenntnis leitete auch uns, Ungarn, als wir 33 Jahre später, im Jahre 1989 die Grenze und den Weg Richtung Deutschland öffneten. Damals waren noch die sowjetischen Besatzungstruppen in Ungarn stationiert. Wie der große Staatsneugründer und Kanzler Helmut Kohl es sagte: Die Ungarn haben den ersten Ziegelstein aus der Mauer geschlagen, und der Zug – fügen wir nun hinzu – hat auch die gesamte kommunistische Weltordnung mit sich hinausgerissen. Wir, Ungarn, haben damals den Gedankengang Ihres Weihbischofs umgedreht. Wir wussten, Europa würde nicht frei sein können, wenn Deutschland nicht erneut vereint sein würde. Die Vereinigung Deutschlands hat die Europäische Union mit einem Schlag zu einer Weltmacht erhoben. Deutschland hat hiernach Mitteleuropa unterstützt, so konnten sich die Völker Mitteleuropas, wenn auch mit Verspätung, aber der gemeinsamen Heimat anschließen, und damit hatte die Europäische Union auch ihre Glanzzeit erreicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Deutsche Freunde!
Wir, Ungarn, sind ein nüchternes Volk. Wir sind uns über unsere Stärke im Klaren und wir wollen keine überflüssigen Konflikte. Wir haben uns nie nach einer Rolle in Europa gesehnt, die unsere Größe und unser Gewicht überschreitet. Jedoch stößt uns die sensible geographische Lage Ungarns alle dreißig Jahre einmal in den Hauptstrom der gerade aktuellen europäischen Kämpfe. 1956 wollten wir, nachdem die Sowjetunion ihre Truppen aus Österreich abgezogen hatte, den Eisernen Vorhang hinter unsere Ostgrenze verschieben. 1989 mussten wir die Grenze öffnen. Und jetzt, 2015-16, müssen wir die Grenze schließen, um die von Süden aus drohende Völkerwanderung aufzuhalten. Wir haben kein einziges Mal um die jeweilige Aufgabe gebeten: Das Schicksal, die Geschichte haben sie uns zugewiesen. Wir, Ungarn, haben nur so viel getan, dass wir nicht davongelaufen, nicht zurückgewichen sind, wir einfach nur unsere Pflicht erfüllt haben. Wir halten auch dann stand, wenn uns jene von hinten angreifen, die wir in Wirklichkeit verteidigen. Ich leugne es nicht, uns schmerzt diese Ungerechtigkeit. Das Sich-Beklagen hört sich aus dem Mund eines Ungarn aber nicht gut an und es passt auch nicht zu unserer Tracht. Doch bedeutet die Ungerechtigkeit noch keine Entbindung von der Erfüllung der Pflicht. Und hierauf können Sie, hier in Bayern, immer vertrauen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Meine Generation, die nach 1956 geboren wurde, hat schon immer von der Wiedervereinigung Europas geträumt. Wir dachten, wenn die Vereinigung gelingt, dann werden unsere Kinder und Enkel frei und unter besseren Bedingungen leben können als wir. Auch wir, Ungarn, haben den europäischen Traum des Friedens, der Sicherheit und des Wohlstandes geträumt. Deshalb hielten wir es nach dem Zusammenbruch der Diktaturen für natürlich, der Europäischen Union beizutreten. Wir gehören hierher, wir sind nach Hause gekommen, dies ist unser Heim. Für uns versteht es sich von selbst, dass wir es, wenn es sein muss, auch verteidigen. Die Grenzöffnung von 1989 und der Grenzschutz unserer Tage sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille. 1989 haben wir im Interesse der Freiheit Europas gehandelt, und jetzt verteidigen wir diese Freiheit. Die Lage ist heute die, dass – wir könnten den einstigen Satz Ihres Weihbischofs paraphrasieren – die Freiheit Ungarns auch die Freiheit Europas bedeutet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Gegenwärtig stellt das Gespann von Bayern und Mitteleuropa eine der stärksten Regionen der Welt dar. Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, dass diese Region sich als Motor Europas im Interesse der gesamten Union weiterentwickeln und wohlhabender werden kann. Die vergangenen Jahre haben bewiesen, wenn wir, auf der Basis des gegenseitigen Respekts stehend, zusammenarbeiten, dann sind wir gemeinsam zu großen Dingen fähig.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident!
Die Freiheit ist niemals ein Selbstzweck. So wie das auch 1956 lehrt, sie gewinnt dann einen Sinn, wenn wir, uns über unsere kleinlichen Ziele, unsere individuellen Wünsche erhebend, unsere Ängste besiegend in der Lage sind, zu handeln, mit anderen Worten: Wir müssen mutig sein. Gegenwärtig ist die Situation auf unserem geliebten alten Kontinent so, dass wir nicht einmal an einem solch festlichen Abend, wie es der heutige ist, feige beiseite schauen dürfen. Unsere gemeinsame Union hat Probleme. Unsere gemeinsame Union ist auf das Gebiet und den Zustand außerhalb des Rechts getrieben worden. Ungelöste Probleme reihen sich auf, und wir haben nur Fragen, Debatten, aber gemeinsame Antworten haben wir keine. Wir können nicht darauf warten, dass irgendwann irgendwer irgendwo unsere Probleme lösen wird. Wir müssen die Lenkung unseres Schicksals in die eigenen Hände nehmen. Unabhängig von der Weltanschauung und der Parteizugehörigkeit kann jetzt schon ein jeder sehen, damit wir Europa bewahren und den europäischen Traum schützen können, müssen wir einiges ändern. Die Frage ist nun, ob wir den Mut besitzen, wesentliche Veränderungen durchzuführen. Soweit ich das sehe, meine lieben Deutschen Freunde, wird die Reform nicht ausreichen, mehr ist notwendig: Die Erneuerung. Das heißt die Veränderung muss nicht von außen, sondern von innen beginnen. Wir dürfen nicht zulassen, dass jene europäische Einheit, die wir mit vielen Entbehrungen, mit harter Arbeit, von Generation zu Generation aufgebaut haben, aufgrund ideologischer Überlegungen, finanzieller Interessen oder der falschen Entscheidungen von Politikern auseinanderfällt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident!
Die bayerisch-ungarische Freundschaft ist eine besondere, in Europa alleinstehende Waffenbrüderschaft. Sie hat einen gewaltigen Bogen beschritten. Sie begann vor tausend Jahren, als die männliche Seite des ersten Königspaares ein Ungar und die weibliche eine Bayerin war. Im 20. Jahrhundert haben wir zunächst gemeinsam zwei Kriege verloren, danach haben wir Schulter an Schulter für die Wiedervereinigung Europas gearbeitet. Man kann sehen, wir Deutschen und Ungarn, haben uns im Laufe der Geschichte häufig manchmal schlechten und manchmal guten Dingen hingegeben. Ich bin der Ansicht, dass wir jetzt auf dem richtigen Weg sind. Jetzt versuchen die Deutschen und die Ungarn jene gemeinsame Sache zu verwirklichen, ein sicheres, freies, friedliches und blühendes Europa zu schaffen. Dies ist ein Ziel, das uns mit Stolz erfüllt, und dies ist dem Vermächtnis der ungarischen Freiheitskämpfer von 1956 würdig.
Es lebe die deutsch-ungarische Freundschaft! Gott schütze Bayern!