11. Oktober 2019, Paris
Sehr geehrter Herr Präsident!
Ich bedanke mich für die Einladung. Die Ungarn kommen gern nach Paris. Besonders bedanke ich mich dafür, dass Sie mich im Herbst eingeladen haben. Den Journalisten sage ich, dass eine der berühmtesten ungarischen Gedichtzeilen „Der Herbst hat sich nach Paris hereingestohlen“ lautet. Jeder Mittelschüler kennt sie. Dass wir im Herbst nach Paris eingeladen worden sind, ist eine Ehre.
Der Herr Präsident hat gesagt, über welche Themen wir uns unterhalten werden. Sicherlich wird es um Macht, Leitung, europäische Politik gehen, aber mich hat in zumindest gleichem Maße das intellektuelle Interesse hierhergeführt. Obwohl wir in Ungarn in vielen Dingen nicht der gleichen Ansicht sind, so besitzt der Präsident Frankreichs bei uns großen Respekt, da er eine politische Führungsgestalt ist, die die intellektuelle Kraft der Debatten über Visionen in die europäische Politik zurückgebracht hat, und das schätzen wir hoch. Unsere Hoffnung ist, dass Europa erneut über eine Vorstellungskraft wird verfügen können, und wir über die konkreten Angelegenheiten hinaus auch über die Zukunft, die Zukunft im weiteren Sinne werden miteinander sprechen können. Heute möchte ich mit dem Herrn Präsidenten lieber über Dinge sprechen, in denen wir übereinstimmen. Denn Frankreich und Ungarn möchten gleichermaßen ein erfolgreiches und wirtschaftlich starkes Europa. Es gibt verschiedene Länder, verschiedene Regionen in Europa, die Osthälfte der EU unterscheidet sich von der westlichen, jedoch brauchen wir Einheit und Zusammenarbeit, und ich bin überzeugt, dass wir hierfür den Weg auch finden werden.
Die Sicherheit ist ein ausgezeichnetes Thema. Ich habe den Eindruck, hier stehen der mitteleuropäische und der französische Standpunkt einander nah, die Ansichten über die Bedeutung des Grenzschutzes stehen einander nah, die Ansichten über die gemeinsamen europäischen Streitkräfte stehen einander nah. Und wenn ich heute noch genug Zeit haben werde, dann werde ich versuchen, dem Herrn Präsidenten verständlich zu machen, warum in der Frage der Migration der ungarische Standpunkt derart anders ist als der französische. Ungarn besitzt andere zivilisatorische Traditionen, es besitzt eine andere Sprache, weshalb wir zur europäischen Sicherheit auf eine andere Weise mit dem Instrument der Solidarität beitragen können als Frankreich, doch sind wir dazu in der Lage, und wir sind auch bereit dazu.
Über die französisch-ungarischen Beziehungen möchte ich nur so viel sagen, dass Ihr Land, sehr geehrter Herr Staatspräsident, der viertgrößte Investor in Ungarn ist. Unsere wirtschaftlichen Beziehungen sind ausgezeichnet, 670 französische Firmen sind in Ungarn tätig, und sie geben 40 tausend Menschen Arbeit, und das schätzen wir hoch. Und ich hoffe, die französischen Investoren werden ihre Tätigkeit in Ungarn fortsetzen.
Ich gehe davon aus, dass wir am heutigen Tag lange über die Erweiterung sprechen werden, denn das ist die wesentlichste Frage der europäischen Vision. Und ich werde dem Herrn Präsidenten darüber sprechen, dass die Erweiterung zwar immer viele Fragen, Detailfragen und Sorgen aufwirft, doch ist die bestimmende Dimension trotzdem die Sicherheit. Das sage ich als führender Politiker eines Landes, das das Tor Europas im Süden, das Tor der Europäischen Union im Süden ist, und ich weiß genau, wir können die Sicherheit Europas dann steigern, wenn wir dieses Tor weiter nach unten in südliche Richtung verschieben und jene Form sowie Vorgangsweise der Erweiterung finden, durch die wir die Sicherheit ganz Europas stärken können. Ich werde also dem Herrn Präsidenten gegenüber hierfür argumentieren, damit wir die richtige Geschwindigkeit und die richtigen Vorgangsweisen finden.
In der Angelegenheit des Klimas werden wir selbstverständlich sprechen. Ungarn ist ein Klimameister. Lieber Herr Präsident, hinsichtlich der Kohlenstoffemissionen befinden wir uns im ersten Drittel der die besten Ergebnisse aufweisenden Länder. Wir sind bereit, unsere Anstrengungen fortzusetzen, aber wir möchten das Gleichgewicht und den Einklang zwischen Wettbewerbsfähigkeit und Klimaschutz finden.
Insgesamt sehe ich also mit guten Hoffnungen der heutigen Unterredung entgegen, und ich möchte wiederholen, dass es für mich eine Ehre ist, hier sein zu dürfen. Der Name von Herrn Präsident Chirac ist schon gefallen, ich möchte auch den Namen von Giscard d’Estaing erwähnen. Er gehörte noch zu der Generation, die 1998, als ich das erste Mal die Wahlen gewonnen habe, da kam Herr Präsident Giscard d’Estaing persönlich nach Ungarn und nahm persönlich am Wahlkampf im Interesse meines Erfolges teil. Ich schätzte und verehrte schon immer die großen Persönlichkeiten der französischen Politik, von denen ich selbst auch viel lernen konnte und die auch immer die Freunde Ungarns waren.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!