5. Februar 2016
Éva Kocsis: Im Studio anwesend ist Ministerpräsident Viktor Orbán. Guten Morgen!
Viktor Orbán: Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!
Fangen wir mit der Innenpolitik an, und zwar mit der derzeit umstrittensten Angelegenheit, dem Unterrichtswesen. Sehen wir von der Kritik der Opposition ab, sprechen wir darüber, was sie für sich selbst formuliert haben. Zoltán Balog sagte, „wir haben das Fahrrad zu weit angeschoben“, János Lázár sprach über die Verschlechterung der Leistungsfähigkeit und der schulischen Ergebnisse der Schüler, worüber übrigens Sie selbst schon früher hier im Studio gesprochen hatten und auch darüber, dass es notwendig sei, den Unterricht in Ungarn mit den wirtschaftlichen Herausforderungen in Einklang zu bringen. Wir gehen gleich auf die Einzelfragen ein, doch zuvor möchte ich Sie bitten, darüber zu sprechen, was Sie insgesamt vom ungarischen Unterrichtswesen erwarten, was der ideale Zustand wäre?
Als ein Elternteil erwarte ich – habe ich doch selbst einige Kinder –, erwarten wir von unseren Schulen, dass sie uns, Eltern, dabei helfen, dass unsere Kinder wohlerzogen sind, sie über einen guten physischen Zustand, mentale Stärke, eine ausgeprägte Willenskraft und über Wissen verfügen, mit dem sie im internationalen Wettbewerb bestehen können. Das möchten wir.
Betrachten wir die Einzelheiten genauer. Aus den Daten der OECD geht hervor, dass wir zum Beispiel hinsichtlich der auf einen Lehrer entfallenden Zahl von Schülern besser als der Durchschnitt sind, oder wenn wir über die Belastung der Schüler und Lehrer sprechen, dann sind wir auch nicht in einer schlechteren Situation als der OECD-Durchschnitt, doch wenn wir schon über die Lehrfächer und über die Qualität gerade im Lichte der Messung der Kompetenzen sprechen, dann finden sich dort schon problematische Punkte. Oder wenn wir die Organisiertheit oder Desorganisiertheit des Klebelsberg Verwaltungszentrums [KLIK] – Sie werden uns gleich Ihre eigenen Erfahrungen mitteilen –, also wenn wir das KLIK betrachten, dann, was zum Beispiel Ministerialkommissar Balázs Szabó früher formuliert hatte, gab es dabei anscheinend keinen Fortschritt. Es gibt keine eindeutigen Zuständigkeiten, der Informationsfluss ist nicht adäquat. Und dann würde vermutlich das Vertrauen auch dadurch verstärkt werden, wenn die breitere Öffentlichkeit, sagen wir, den Vorsitzenden des KLIK sehen würde, doch in letzter Zeit kann man auch die zuständige Staatssekretärin kaum noch sehen. Es gibt schwerwiegende Probleme mit der Qualität der Lehrerausbildung. Welche Probleme sehen Sie?
Als wir 2010 mit der Umgestaltung des Unterrichtssystems begannen, mussten wir zwei Tatsachen ins Auge sehen. Die erste, dass das ungarische Unterrichtssystem finanziell bankrott war, Schulden in Höhe von mehreren Hundertmilliarden hatten sich angesammelt, es war klar, dass dies ein gescheitertes System war, finanziell nicht aufrechtzuerhalten. An dieser Stelle möchte ich jetzt die Frage der Verantwortung nicht weiter portionieren, inwieweit die kommunalen Selbstverwaltungen, die damalige Regierung, die Schulen dafür verantwortlich waren. Dies ist inzwischen schon egal, das Wesentliche ist, dass Ungarn im Jahre 2010 über ein Unterrichtssystem verfügte, das finanziell bankrott war, weshalb es reorganisiert werden musste. Und die zweite Tatsache, von der wir ausgegangen sind, war die, dass unsere Kinder im internationalen Wettbewerb immer weniger bestehen. Es gibt internationale Messungen, es gibt sogar mehrere solcher, die ausnahmslos zeigen, dass die Leistungen der ungarischen Kinder sich kontinuierlich verschlechtern. Wir waren also mit der Tatsache konfrontiert, dass wir ein Unterrichtssystem haben, dass finanziell versagt und fachlich versagt hatte. Auch an dieser Stelle möchte ich die Verantwortung nicht portionieren, ob die Arbeit der Pädagogen schlechter geworden ist, was ich selbst nicht zu behaupten wagen würde, ob unsere Kinder dümmer auf die Welt kommen, was ich ebenfalls nicht zu behaupten wage, ob die Eltern ihren Verpflichtungen bei der Vorbereitung der Kinder weniger nachgekommen sind, was ich ebenfalls nicht zu behaupten wage. Doch auch hier ist es beinahe gleichgültig, an welche Stelle wir genau die Betonung setzen würden, das Wesentliche ist, dass wir ein Unterrichtssystem hatten, das eine sich verschlechternde Leistung aufwies, dies musste verändert werden. Deshalb dürfen wir nicht an den Punkt zurückkehren, von dem aus wir losgegangen sind, denn dort war der wirtschaftliche, finanzielle Bankrott, und zugleich auch der Bankrott im Wissen, im Fachlichen, in der Vorbereitung, es musste also unbedingt etwas verändert werden. Meiner Ansicht nach sind wir in die richtige Richtung losgegangen. Dies ist ein großes System, sehr viele Menschen arbeiten in ihm, nicht wahr, und ein jeder ist auf irgendeine Weise betroffen, jeder hat Kinder, wer aber kein Kind hat, der hat einen Enkel, oder wenn er selbst keinen hat, dann sein Bruder, dies ist also im Leben eines jeden ungarischen Menschen vorhanden, es ist eine wichtige Sache. Eine wichtige Frage ist auch, was wir in den Mittelpunkt der ganzen Angelegenheit stellen, ich verstehe alle fachlichen Fragen, die die Pädagogen aufgeworfen haben, diese werden wir auch diskutieren, jedoch müssen wir in den Mittelpunkt der ganzen Debatte über das Unterrichtswesen unsere Kinder setzen und meiner Ansicht nach ständig – nicht nur jetzt, sondern im Allgemeinen und kontinuierlich – die Frage stellen, ob die Schule unsere Kinder tatsächlich darauf vorbereitet, im Erwachsenenalter zu bestehen. Ob sie eine glückliche Kindheit haben, ob sie ausgeglichene Kinder sind, ob sie deshalb die Chance auf ein glückliches Leben in der Schule erhalten, das heißt dass sie als Erwachsene in der Lage sein sollen, für sich selbst solch ein Leben zu schaffen, ob sie dann im Wettbewerb bestehen, gesunde Menschen sein werden – wir sprechen also über die wichtigsten Fragen. Aus diesem Grunde ist hier die Absicht der Regierung besonders gültig, dass es eine offene Regierung geben soll. Die offene Regierung bedeutet, dass wir auf die Meinung eines jeden neugierig sind, wir haben große Hoffnungen auf die Nationale Pädagogenkörperschaft gesetzt und ich tue dies auch weiterhin. Wir haben sie ins Leben gerufen, damit dort frei von Politik und Parteipolitik die inneren fachlichen Fragen des Unterrichts kontinuierlich diskutiert werden können, wir befinden uns jetzt gerade in einem brisanten Moment hiervon. Ich möchte auch der ungarischen Gesellschaft für die Geduld und die Anstrengung meinen Dank aussprechen, die sie im Interesse der Pädagogen in den vergangenen Jahren unternommen hat. Nicht wahr, die ungarische Gesellschaft hat es akzeptiert, vielleicht sogar unterstützt, dass wir, wenn die so genannten Laufbahnmodelle eingeführt und bedeutende Lohnerhöhungen durchgeführt werden, die Pädagogen an die erste Stelle setzen. Also ich bin keinem Polizisten, Soldaten oder Fachmann in der Verwaltung begegnet, der gesagt hätte, nicht die Pädagogen sollten die ersten sein, deren Gehälter wir regeln, und hierbei sprechen wir über große Lohnerhöhungen. Wir haben also in das Unterrichtssystem auf der Entwicklungsseite 450 Milliarden Forint und auf der Gehaltsseite etwa 230 Milliarden Forint hineingesteckt. Es gibt keinen Zweig in Ungarn, der eine Erweiterung seiner Quellen um annähernd 700 Milliarden Forint in dem vergangenen Zeitraum erhalten hätte, und zugleich haben weder die Polizisten noch die Verwaltungsfachleute und die öffentlich Beschäftigten gesagt, wir möchten lieber selbst vorausgehen, sondern sie haben eingesehen, dass die wichtigste Sache das Kind ist, dass die Zukunft ihrer Familie und auch die des Landes in unseren Kindern liegt, deshalb muss man bei den Entwicklungen und auch bei den Lohnerhöhungen die Pädagogen an die erste Stelle lassen. Dies bedeutet nicht, dass die Dinge perfekt wären, deshalb hat die offene Regierung, der kontinuierliche Dialog, der Unterrichtsrundtisch einen Sinn und wird ihn auch in der Zukunft besitzen.
Besitzt der Rundtisch, der Unterrichtsrundtisch, den sie geschaffen haben, hierbei eine vermittelnde Funktion?
Es sind Orte nötig, an denen wir miteinander reden können, der Rundtisch ist hierfür geeignet.
Sprechen wir über jenen Bereich des Unterrichts, in dem die Veränderungen in bestimmtem Sinne schon begonnen haben, und dies ist die Berufsausbildung. Jedoch gibt es zugleich – einerseits ist dies unter dem Aspekt der Wettbewerbsfähigkeit äußerst wichtig, und andererseits gehen Sie in einigen Stunden zur Regierungssitzung, dort wird zum Beispiel auch die Entwicklung der Industrie zur Sprache kommen, wenn ich gut informiert bin – auf einzelnen Gebieten einen gewaltigen Fachkräftemangel. Andererseits gibt es in Ungarn eine Art seltsamer Polemik darüber, als ob dies irgendeine Wahl im Unterrichtssystem wäre, weil es ansonsten so zu sein scheint, dass in den am besten funktionierenden Unterrichtssystemen der Welt 60 Prozent der Schüler irgendeinen Beruf erlernen, und im Übrigen bei den als Beispiel angeführten Finnen erlernen 94 irgendeinen Beruf. Sind Sie mit den gegenwärtigen Prozessen zufrieden?
Worum geht es denn? Es geht darum, dass seit 2010, seitdem die Regierungsverantwortung wieder auf unseren Schultern ruht, wir kontinuierlich mit den Akteuren des Wirtschaftslebens konsultieren, und seit 2010 ist die Meinung stark vertreten, dass das Schulsystem nicht alles im Interesse dessen unternimmt, damit die aus ihm hervorgehenden Kinder sich in die Arbeitswelt eingliedern und in der Wirtschaft Erfolge erreichen können, in ihrem eigenen Interesse und auch in dem des Landes. Deshalb sind wir durch alle wirtschaftlichen Interessenvertretungen ständig dazu gedrängt worden, das System der Berufsausbildung umzustrukturieren. Wichtig ist nicht, dass das Kind ein Papier erhält, sondern dass es ein brauchbares Wissen bekommt. Und wir haben uns über lange Monate abgestimmt, besonders die Rolle der Handelskammer und der Handwerkskammer sowie der Wirtschaftskammer war wichtig, unter ihrer Einbeziehung haben wir Pläne ausgearbeitet, dies kontinuierlich diskutiert, es gab einen offenen Dialog zwischen den Pädagogen und den Vertretern des Wirtschaftslebens – an dem auch die Regierung teilgenommen hat – darüber, wie das System der Berufsausbildung umgebaut werden muss, damit die Kinder am Ende nicht nur ein Blatt Papier in der Hand halten, sondern auch über ein brauchbares Wissen verfügen. Diese Umstrukturierungen haben auch begonnen, wir haben erst die ersten Schritte getan. Heuer erst, nicht wahr, erfolgt die Berufsausbildung im neuen System, da wird es sicher noch viele und nützliche Erfahrungen geben, dort wird man sicherlich auch noch berichtigende Schritte durchführen müssen, doch das Wesentliche ist, dass endlich die ungarische Berufsausbildung in die Richtung losgegangen ist, dass es unseren Kindern ein auch im wirklichen Wirtschaftsleben nutzbares Wissen vermittelt und sie, die Unternehmen und auch Ungarn auf diese Weise erfolgreich macht. Dieser Prozess muss also meiner Ansicht nach unterstützt werden.
Wenn wir schon einen halben Satz lang über die Wettbewerbsfähigkeit gesprochen haben, dann lassen Sie uns unseren Blick auch etwas über die Grenzen schweifen. Wenn vor einigen Jahren jemand den Experten die Frage gestellt hatte, wo man investieren sollte, dann haben angefangen von Goldman Sachs bis zum Analysten der New York Times alle gesagt: In Indonesien. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern blicken auf eine jahrzehntelange Vergangenheit zurück. Sie sind jetzt gerade aus diesem Land heimgekehrt. Ist Indonesien eigentlich das Ziel oder das Tor zu der Region?
Schauen Sie, Indonesien ist eine merkwürdige Welt, eine schöne und anziehende Welt, aber eine ganz andere Welt, als wir es sind, zugleich ähneln die Gesetzmäßigkeiten des Wirtschaftslebens auch dort immer mehr den wirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten der europäischen, der amerikanischen oder im Allgemeinen denen der westlichen Welt. Auch dort habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Weltwirtschaft immer einheitlicher wird. Die Frage ist die, ob jene Möglichkeiten, die das Einschalten der einen oder der anderen Region der Welt dem System der Weltwirtschaft bietet, von den ungarischen Unternehmern genutzt werden können; hierzu müssen wir Brücken bauen. Auf solche Reisen, ich war jetzt in der Mongolei, zuvor im Iran, und dann jetzt in Indonesien, fahren wir im Allgemeinen mit einer Wirtschaftsdelegation, und dies sind vorbereitete Reisen. Es gibt Länder, in denen man gerade nur noch das Tüpfelchen auf das I setzen muss, weil es Wirtschaftsvereinbarungen gibt oder wir gerade an ihrer Schwelle angelangt sind, es gibt Länder, in denen man die für die Ungarn vorteilhaften Verhandlungsprozesse vorantreiben muss, und es gibt solche, in denen diese erst begonnen werden müssen. Ich habe jetzt den Eindruck, und meine Verhandlungen in Indonesien haben mich darin auch bestärkt, dass die ungarische Wirtschaft heute bereits über 4-5 tausend kleinere und mittlere Unternehmen verfügt, die in der Lage sind, in jedwedem Teil der Welt wettbewerbsfähig zu sein, also wenn sie an den Punkt gelangen, dort Kontakte auszubauen, dann können sie dort auch bestehen. Wir benötigen dies, denn zehn Millionen Menschen stellen keinen derartigen Binnenmarkt, keine Wirtschaftskraft dar, dass wenn wir nur nach Innen arbeiten, nur die Bedürfnisse der zehn Millionen Menschen befriedigen, wir uns dann auch schnell genug entwickeln könnten. Eine Voraussetzung für die ungarische Wirtschaft, für den Anstieg des Lebensniveaus ist es, dass es zahlreiche ungarische Klein- und mittlere Unternehmungen gibt, die selbst in den entferntesten Ecken der Welt erfolgreich sind. Um 2010 gab es zwei-dreitausend solcher Unternehmen, unserer Ansicht nach kann es jetzt etwa vier-fünftausend geben, und wir benötigen, um das Niveau von Bayern erreichen zu können, zwölftausend, es steht uns also noch eine sehr große Arbeit bevor. Viel Arbeit hat das von Péter Szijjártó geführte Ministerium des Äußeren und für Außenhandel verrichtet, meiner Ansicht nach können wir dort eine ausgesprochen schöne Arbeit sehen, auch die Zahlen weisen in die richtige Richtung, doch müssen wir noch sehr viel arbeiten, wir müssen die Zahl der exportfähigen ungarischen Klein- und mittleren Unternehmen mehr als noch verdoppeln, damit das ungarische Leben die hier Lebenden befriedigt.
Um diese Gebiete, von denen wir jetzt sprachen, bemühen sich auch andere. Können wir den Wettbewerb mit ihnen aufnehmen?
Der Wettbewerb ist riesig, und nicht dass wir annehmen sollten, dass wir mit den Indonesiern im Wettbewerb stehen, sondern, sagen wir, mit den Tschechen, den Polen, also, sagen wir, auf dem indonesischen Markt stehen ungarische und polnische Produkte im Wettbewerb miteinander. Oder in der Mongolei stehen ungarische und deutsche Firmen im Wettbewerb miteinander. Ich wollte nicht sagen, dass es unentdeckte Gebiete gäbe, wo man es kaum erwarten kann, dass der erste Unternehmer ankommt, und dieser ist dann gerade ein Ungar, sondern ich spreche darüber, dass sich alle Teile der Welt miteinander verbunden haben, und deshalb läuft überall der gleiche Wettbewerb. Wichtig sind die Schnelligkeit, der Mut, die Anpassungsfähigkeit, der Respekt gegenüber den Einwohnern des Gastlandes. Wir besitzen einen Vorteil, nicht wahr, wir sind keine Imperialisten oder wir waren nie eine Kolonialmacht, wir wollen also von niemandem etwas wegnehmen, die ungarische Kultur, auch die Wirtschaftskultur ist auf Zusammenarbeit aufgebaut. Wir freuen uns also darüber, wenn wir mit den Ansässigen zusammenarbeiten können, wir bevorzugen also nicht das, was wir selbst in den neunziger Jahren am eigenen Leib erfahren haben, dass eine große Firma eines großen Staates hierher kommt, etwas kauft, den Betrieb schließt, den Markt übernimmt, uns danach im Allgemeinen nicht in die Leitung hineinlässt, sondern diese für sich selbst behält, sehr viel Geld an uns verdient, das unter diesem oder jenem Anspruch ins Ausland überwiesen wird, auf Wiedersehen, liebe Eingeborene, wir wünschen viel Erfolg. Dies haben wir also nicht gern, das haben wir selbst erlebt, wir wollen nicht, dass unsere Unternehmer sich so verhalten, deshalb bitte ich im Laufe jeder Verhandlung darum, dass die Regierung des uns empfangenden Landes festlegen möge, in welchen Bereichen sie gerne ungarische Unternehmer sehen würden, und dann ist die Situation gleich eine ganz andere, als die, die wir selbst in den neunziger Jahren erlebt haben.
Noch eine innenpolitische Angelegenheit, jedoch schon in europäischem Kontext, und dies ist die Verfassungsänderung. Angesichts der Diskussionen der Politiker könnte der einfache Mann von der Straße annehmen, diese Verfassungsänderung sei aus dem Grunde notwendig, weil er jetzt nicht verteidigt wird, wenn, sagen wir, es zu einem Terrorangriff kommt. Helfen Sie uns dabei, uns hierin zurecht zu finden, was denn jene Lage wäre, wegen der diese Verfassungsänderung notwendig ist?
Worüber wir jetzt reden, ist eine Situation, in der ausreichende Informationen darüber zur Verfügung stehen, dass die Terrorgefahr in Ungarn zugenommen hat, und wir über zuverlässige Informationen darüber verfügen, dass ein Terrorangriff gegen die ungarischen Menschen vorbereitet wird, sagen wir so, wie dies unlängst in Paris geschehen ist, oder so, wie wir dies in den Berichterstattungen aus Brüssel sehen konnten. Und dann lautet die Frage, was die Regierung unternehmen kann, um diesen Dingen vorzubeugen. Wir sprechen also nicht mehr darüber, dass wir die eingetretene Terrorhandlung aufklären und die Täter fassen sowie Vergeltung üben müssen, sondern wie wir dem vorausgehend die Menschen davor schützen können, dass diese Terrorhandlungen durchgeführt werden. Hierzu brauchen wir Mittel, dies ist eine europäische Diskussion, sie wird nicht nur in Ungarn geführt, in Frankreich hat man gerade jetzt solche Vorschläge eingereicht, in Bayern ist dies eine heftige Diskussion. Ein jeder schlägt vor, dass wir unseren Regierungen in Europa überall die Instrumente, den Spielraum, die Verfahrensmöglichkeiten in die Hand geben, mit deren Hilfe sie verhindern können, dass aus der Terrorgefahr eine Terrorhandlung wird. Diese Debatte wird in Ungarn geführt, und, nicht wahr, der Wolf wird zu keinem Vegetarier werden, hier bewahrt ein jeder seinen eigenen Charakter. Der Fidesz und die Christlichdemokratische Partei, in deren Denken die Sicherheit der Menschen an erster Stelle steht, möchten, dass die jeweilige Regierung über ausreichende Instrumente und ausreichenden Spielraum verfügt, um die Menschen schützen zu können. Die Linke ist, nicht wahr, auf der Seite der Migranten, sie betrachten die Terrorgefahr also von Vornherein als keine echte Gefahr, ja, sie haben ja auch über die Migration behauptet, das sei ein Pseudoproblem. Als es sich dann herausstellte, dass doch Migranten kommen, ja unter ihnen viele Terroristen kommen, haben sie gesagt, richtig sei es, wenn wir sie hereinlassen. Wenn also Ungarn heute eine linke Regierung besäße, dann hätten wir in diesem Lande Probleme des Typs wie in Köln, Paris und Brüssel, weil sie sie hereingelassen hätten. Wir haben vor allen anderen gesagt, dass hieraus noch ein großes Problem werden wird, und man muss die Möglichkeiten zu Verteidigung der Grenze ausbauen, wir wurden niedergezischt, und heute macht ein jeder das gleiche. Dann haben wir gesagt, dass wir zusammen mit den Migranten auch Terroristen nach Europa hereingelassen haben, denn die Geheimdienste meldeten überall in Europa, dass man sich auf die Terrorgefahr vorbereiten müsse. Wir sind niedergezischt worden, es kam dann Paris. Ich sage, dass uns eine weitere Gefährdung durch den Terror bevorsteht, deshalb ist es meiner Ansicht nach nötig, so schnell wie möglich und in möglichst vielen Ländern Europas die notwendigen Mittel den Regierungen zur Verfügung zu stellen. Auch wir wollen nur soviel, nur jene Instrumente und den Spielraum, den die eigenen Parlamente anderer europäischer Länder gewähren.
Dann sind also die derzeit in der Verfassung verankerten 5 besonderen juristischen Verfahren für den Notfall keine ausreichenden Instrumente hierfür.
So ist es, dies ist die Lage, doch ich sage es noch einmal: Im 21. Jahrhundert ist die europäische Terrorbedrohung eine neue Entwicklung, deshalb muss man in allen Ländern Rechtsvorschriften schaffen, Verfassungen modifizieren, jedoch ist dies eine technische Frage. Das Wesentliche ist, dass wir der jeweiligen Regierung nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa jene Instrumente in die Hand geben, mit Hilfe derer den Terrorakten vorgebeugt werden kann.
Und wenn ich es Ihren Worten richtig entnehme, dann gibt es Informationen über ganz konkrete Angriffe dieser Art?
Die Frage ist nicht, ob wir jetzt über solche Informationen verfügen, sondern dass solche Informationen jederzeit entstehen können. Ungarn gehört also heute nicht zu den besonders vom Terror bedrohten Ländern, wofür der Grund darin liegt, dass wir keine Migranten hereingelassen haben. Wenn wir sie hereingelassen hätten, dann könnte auch hier all das vorkommen, was in Westeuropa vorkommt, angefangen mit der Abnahme der Sicherheit im Alltagsleben bis zum terroristischen Akt. Ungarn hat sich meiner Ansicht nach in diesen Fragen auf geschickte Weise verteidigt, doch bedeutet dies nicht, dass es in Zukunft solch eine Bedrohung nicht geben könnte. Und ich sage es noch einmal: In dieser Hinsicht müssen wir Europa als eine Einheit betrachten, wenn wir jemand nach Europa hereinlassen, dann können wir nicht sagen, an welchem Punkt Europas er eventuell sich anschickt, eine terroristische Tat zu begehen. Denn wenn er schon drin ist, dann kann seine freie Bewegung im Inneren nur mehr sehr schwer kontrolliert werden. Dies hier sind komplizierte verfahrensrechtliche Fragen, zweifellos muss man vorsichtig mit ihnen vorgehen, denn die Freiheitsrechte sind wichtig, die darf man nicht mehr als begründet einschränken, doch möchte ich klarstellen, dass wir an die erste Stelle die Sicherheit der Menschen stellen müssen, sie müssen geschützt werden.
Vor einiger Zeit, als der britische Premier hier war, und wir uns danach unterhalten haben, haben Sie deutlich gemacht, dass Sie zum Beispiel jenen gewissen als Notbremsenmechanismus bezeichneten Vorschlag, nach dem die europäischen Arbeitnehmer von den sozialen Dienstleistungen ausgeschlossen werden sollen, für inakzeptabel halten – übrigens ähnlich den Visegrád-Staaten. Seitdem sehen wir oder wissen schon, dass sich in gewissem Sinne ein Kompromissvorschlag in Vorbereitung befindet, zumindest lesen wir dies von den Vorschlägen des Präsidenten des Europäischen Rates ab. Gibt es einen Kompromissvorschlag, den die vier Visegrád-Staaten in dieser Frage zum Beispiel akzeptieren könnten?
Wir bewegen uns auf solch einen Zustand zu. Auch hier, wenn Sie es erlauben, sollten wir zum Ausgangspunkt zurückkehren, also in der Statistik Großbritanniens für das Jahr 2014 steht, dass in Großbritannien 55 Tausend Ungarn arbeiten, betrachten wir dies als Ausgangspunkt, wir könnten dies auch in Zweifel ziehen, wir haben jetzt schon den Februar 2016, dies ist eine 2014-er Zahl, doch gehe ich davon aus, dass es hier um mehrere zehntausend ungarische Familien geht oder um ungarische Menschen, die dort arbeiten. Zum Vergleich: Viel mehr Deutsche arbeiten übrigens in England, also betrifft dies nicht nur uns, Mitteleuropäer, sondern dies berührt auch die Deutschen, von den Polen ganz zu schweigen, bei denen es sich meiner Ansicht nach um eine Größenordnung von 600-700-800 tausend Menschen handelt. Die erste und wichtigste Sache, für die wir alle gekämpft haben und die in Ungarn alle Parteien unterstützt haben, als wir der Europäischen Union beitraten – das sollten wir verteidigen –, ist nämlich die, dass die ungarischen Menschen innerhalb der Europäischen Union frei reisen und arbeiten dürfen. Dies ist ein Wert. Heute wird es von vielen negativ hingestellt, dass sich ein Teil der Jugendlichen im Ausland versucht, doch ich erinnere mich daran, dass wir dies im Jahre 2004, als wir der Union beitraten, als eine Errungenschaft ansahen und dachten, dass dies ein großartiges europäisches Recht ist, und dass vor dem, der das Gefühl hat, dass er fähig ist, das Risiko und die Schwierigkeiten auf sich zu nehmen, um sein Glück in der Fremde zu machen, die Türen geöffnet werden müssen. Es ist also eines der wichtigsten Elemente der europäischen Freiheit, dass wir frei in Europa arbeiten können. Meiner Ansicht nach darf man dies in keiner Weise verletzen. Unser Ausgangspunkt ist also, dass niemand, so auch Großbritannien nicht, die Zahl der dort arbeitenden Menschen beschränken darf, dies ist der Ausgangspunkt. Die zweite Sache ist, ob man einen Unterschied zwischen den Engländern und den dorthin kommenden Ausländern aus der Europäischen Union machen darf. Hierauf sage ich, dass man selbstverständlich einen Unterschied machen kann, die Frage ist, welches Maß diese Unterscheidung hat. Und ich glaube, dass ein Unterschied der Art, der die aus Mitteleuropa oder von außerhalb Englands dort Angekommenen gegenüber den dort lebenden Engländern diskriminiert, solch ein Unterschied darf nicht gemacht werden. Zurzeit läuft gerade die Deutung dessen, was als Diskriminierung und was als berechtigte englische Regierungsmaßnahme gilt. Wir sind einander näher, als wir es waren, das heißt die Briten und die anderen Länder Europas, und auch die 4 Visegrád-Staaten kommen gut mit der Abstimmung ihrer Standpunkte voran. Weil wir zu dem Ergebnis gekommen sind, die Tschechen, die Slowaken, die Polen und wir, dass wir einen gemeinsamen Standpunkt ausformen und nicht einzeln unsere Interessen vertreten sollten, sondern gemeinsam. Aus diesem Grunde kommt auch die polnische Ministerpräsidentin nächste Woche nach Ungarn, deshalb reise ich auch am 15. Februar nach Prag, wo die Ministerpräsidenten der V4-Staaten sich über diese Frage beraten werden, und wir werden hoffentlich einen gemeinsamen Standpunkt herausbilden, den wir am Ende jener Woche auf dem in Brüssel geplanten Ministerpräsidenten-Gipfel als gemeinsamen mitteleuropäischen Standpunkt vertreten können.
Worin der Standpunkt der V4-Staaten dem der Briten recht ähnlich ist, ist zum Beispiel die Stärkung der nationalen Souveränität.
Doch jetzt habe ich auf Ihre Frage antwortend auf die Frage fokussiert, ob man auf dem Gebiet Großbritanniens einen Unterschied zwischen Briten und Mitteleuropäern machen darf. Jetzt ist dies hier die andere Frage, die Sie aufwerfen, dass die Briten viel mehr als nur dies an der Union verändern wollen, sie haben eine umfassende Reform in Aussicht gestellt, was ich begrüße. Und ich glaube, dass das, was die Briten sagen, mit dem Interesse Ungarns übereinstimmt. Die Briten sagen, dass im 21. Jahrhundert die Art und Weise, wie die Union jetzt funktioniert, keine Wettbewerbsfähigkeit mehr zum Ergebnis hat. Dass die europäische Wirtschaft dahinstolpert, abgesehen von Mitteleuropa und Großbritannien eher stagniert, dass die sich mit den Aussichten beschäftigenden Analysten sagen, dass andere viel schneller voranschreiten werden als wir, sind Zeichen, die aufmerksam machen, und deshalb muss ganz Europa erneuert werden, sagen die Briten – wir stimmen dem zu. Wir stimmen auch der Richtung zu. Die Briten sagen, die Europäische Union kann dann stark sein, wenn die Mitgliedsstaaten stark sind, deshalb sollen all jene Dinge, die wir den Mitgliedsstaaten weggenommen und sie dadurch geschwächt haben, die aber auf europäischer Ebene nicht gut funktionieren, den Mitgliedsstaaten zurückgegeben werden. Zum Beispiel ist die Migration ausgesprochen eine solche Frage, doch könnte ich auch noch andere Themen nennen. Wir stimmen dem also zu. Zum Beispiel muss die Rolle der nationalen Parlamente in den Entscheidungsprozessen innerhalb der Europäischen Union verstärkt werden. Heute spielen die nationalen Parlamente eine beratende Rolle, in einigen Angelegenheiten dürfen sie ihre Meinung mitteilen. Das ist wenig, sagen die Briten. Meiner Meinung nach sagen das auch die Ungarn. Wir vertrauen unserem eigenen nationalen Parlament, das wir selbst gewählt haben, mehr als dem gemeinsam gewählten Europäischen Parlament. Wir vertrauen auch jenem, doch hat dieses Vertrauen eine andere Qualität, als jenes staatsbürgerliche Vertrauen, das wir in unsere eigenen Leute, in unsere eigenen Parlamentsabgeordneten setzen. Wir möchten also, dass die nationalen Parlamente zumindest das Recht haben, Gesetzesregelungen zu stoppen, wenn irgendein nationales Parlament mit einer in Vorbereitung befindlichen Rechtsvorschrift der Europäischen Union nicht einverstanden sein sollte, dann soll es die Möglichkeit haben, diese aufzuhalten. Damit bin ich einverstanden, dies ist ein britischer Vorschlag, und es gibt noch mehrere andere Sachen im Aktionsplan der Briten: Wettbewerbsfähigkeit, Abbau bürokratischer Hindernisse, Bürokratieabbau im Allgemeinen, und so weiter. Ich glaube also, dass das Auftreten der Briten insgesamt eine gute Wirkung auf die Zukunft Europas hat und auch den Interessen Ungarns dient.
Sie hörten in der vergangenen halben Stunde Ministerpräsidenten Viktor Orbán.