4. Dezember 2015
Éva Kocsis: Im Studio anwesend ist Ministerpräsident Viktor Orbán, guten Morgen!
Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen!
Auf Grund der durchgesickerten Meldungen scheint es so zu sein, dass die Innenminister der Union in einigen Stunden darüber entscheiden werden, oder zumindest darüber verhandeln, ob sie Schengen außer Kraft setzten. Was geschieht hier eigentlich? Zerfällt die Europäische Union in ihre Einzelteile oder entfernen sich die Regionen voneinander?
Tatsächlich ist da etwas Schießpulver in der Luft. Es gibt Länder, die aus der Flüchtlingskrise und der neuzeitlichen Völkerwanderung die Schlussfolgerung gezogen haben, dass man das Gebiet der freien Bewegung innerhalb der Europäischen Union einschränken muss. Sie wollen sich gegen ihre eigene – meiner Ansicht nach im Übrigen falsche – Migrantenpolitik verteidigen, indem sie die Grenzkontrollen zwischen Ländern wiederherstellen, die übrigens nicht die Außengrenzen Europas darstellen. Es geht jetzt also darum, dass einige Länder – die genaue Zahl kennen wir noch nicht, diese kann sechs-sieben betragen –, vor allem die Gründer umfassenden Länder, sich von den mitteleuropäischen Ländern abtrennen möchten, aus welcher Richtung ja die Migranten in die Europäische Union gekommen sind. Aus diesem Grunde hat Ungarn immer gesagt, wenn wir das Recht der ungarischen Menschen darauf verteidigen wollen, dass sie sich so wie bisher ohne Grenzschutz und Verzögerungen beim Grenzübertritt innerhalb der Europäische Union bewegen, arbeiten, reisen, Handel treiben können, dann müssen wir Ungarn unseren Verpflichtungen entsprechend die Außengrenze der Europäischen Union verteidigen, das heißt die Schengen-Außengrenze zwischen Ungarn und Serbien sowie zwischen Ungarn und Kroatien. Das haben wir getan, wir haben sie verteidigt, deshalb ist aus ungarischer Perspektive jedwede Organisierung, die Ungarn aus dem Bereich der Möglichkeit der freien Bewegung hinausstoßen möchte, vollkommen inakzeptabel, denn wir waren schließlich der einzige der Schengen-Mitgliedsstaaten, der Schengen, also die Außengrenze der Zone der feien Bewegung tatsächlich verteidigt hat.
Doch diese Bestrebung, über die Sie jetzt sprechen, begann nicht jetzt. Diese Erscheinung ist nur ein weiteres Element von ihr.
Es gibt immer den Gedanken innerhalb der Europäischen Union, dass wenn es wenigere Mitgliedsstaaten gäbe, dann würden die Dinge besser laufen, dies ist ein Gedanke, den man unter dem Teppich immer finden kann, und wenn irgendeine Krise ausbricht, zum Beispiel eine Finanzkrise oder jetzt die Migrantenkrise, dann kommen diese Stimmen unter dem Teppich hervor. Wir allein können hierauf keine adäquate Antwort geben, deshalb sind wir gestern in Prag mit den Tschechen, den Polen und den Slowaken darüber übereingekommen, dass wir organisiert und gemeinsam im Interesse der Verteidigung unserer Möglichkeit zur feien Bewegung auftreten. Wir haben den den Namen „Freunde Schengens” tragenden Kreis gegründet, jetzt sind wir zu viert in ihm, unsere Botschafter und Minister arbeiten daran – den Inhalt legen wir jetzt fest –, und wir fordern die Staaten der Europäischen Union auf, sich diesem Kreis anzuschließen, dessen Ziel es ist, die freie Bewegung innerhalb der Schengen-Grenzen zu verteidigen, das heißt wir schützen auch die Außengrenze von Schengen.
Es ist ziemlich seltsam, dass solch ein Freundeskreis gegründet werden muss, weil man annimmt, dass dies die für alle verbindliche Norm darstellt.
So ist es. Es ist seltsam, aber wir müssen es trotzdem tun, da unsere Interessen dies erfordern.
Blicken wir ein bisschen voraus: Im Zusammenhang mit der Quote wendet sich Ungarn ans Gericht. Womit rechnen Sie? Ist dies ein symbolischer Schritt, oder was erwarten Sie von dem Gericht, das als Gericht der Europäischen Union uns zumeist scharf kritisiert hat.
Meiner Ansicht nach ist der Europäische Gerichtshof ein unabhängiges Gericht, das heißt ich nehme nicht an, dass irgendeine politische Organisation der Europäischen Union – hierbei sagen wir die Kommission und den Rat mit inbegriffen – in der Lage wären, das Gericht zu beeinflussen. Das ist eine unabhängige Körperschaft, es steht ihr auch der nötige Respekt zu. Unser Problem ist viel mehr, dass sie die Welt aus einer anderen Perspektive zu betrachten pflegen, denn sie gehören zu jenem Teil Europas, das das übernationale Leben vertritt, und wir befinden uns darunter, denn wir leben das Leben der Nationen. Jedoch gibt es dafür die öffentlichen und gründlichen Verfahren, die Debatten vor dem Gerichtshof, damit wir diese Gesichtspunkte vorstellen können. Meine Antwort auf Ihre Frage ist also die, dass die Geste keine symbolische ist, sondern eine substanzielle: Wir wollen mit dem Europäischen Gerichtshof jenen Beschluss außer Kraft setzen lassen, den der Europäische Rat, die Europäische Kommission gefasst hat, und der nach Ansicht unserer Juristen eindeutig dem Grunddokument und den bestehenden Rechtsvorschriften der Union widerspricht.
Spielen wir mit dem Gedanken, dass es hierzu kommt. Europa ist voll von Migranten. Was ist der nächste Schritt? Was wird mit denen geschehen, die schon hier sind, wenn es zum Beispiel zu solch einer Gerichtsentscheidung kommt?
Auch dies kann ein Ausgangspunkt zum Überblicken der Lage sein, ich wähle jedoch einen anderen Ausgangspunkt, und ich empfehle auch den Ungarn, dass wir auf unseren eigenen Ausgangspunkt beharren sollten. Unser Ausgangspunkt ist, dass niemand den Ungarn und auch keiner einzigen anderen europäischen Nation vorschreiben darf, mit wem sie zusammenleben wollen. Diese Entscheidung können nur wir fällen, das ungarische Parlament, die ungarische Regierung, die ungarischen Kommunen, jene, die dazu die Befugnis haben. Aber wir müssen darüber hier entscheiden, man darf uns nicht in Brüssel sagen, mit wem wir zusammenleben sollen, und Brüssel kann keine Macht haben, Menschen hierher zu siedeln, sie zwangsanzusiedeln, mit denen wir nicht zusammenleben wollen. Und ob wir dann eine gute Entscheidung fällen oder eine schlechte, ob diese moralisch besteht, ob sie fachlich gut ist, ob sie weise war, das ist dann die Angelegenheit der Ungarn, dies werden wir dann gemeinsam entscheiden, den äußeren Zwang können wir aber keinesfalls akzeptieren. Ich wähle diesen Ausgangspunkt, und danach kann man darüber sprechen, was mit denen ist, die bereits hier sind, und so weiter, jedoch muss der Ausgangspunkt meiner Ansicht nach festgelegt werden, damit wir später nicht vom Weg abkommen.
Wir kommen gleich zum praktischen Aspekt, aber wenn ich Ihre Logik, Ihren Gedankengang fortsetze, dann legen wir in die eine Waagschale das Interesse der Nationalstaaten, in der anderen Waagschale hingegen befindet sich die Verantwortung gegenüber den Ausgangsländern, den entsendenden Ländern. Wem gehört die, den Vereinigten Staaten der Europäischen Union, den arabischen Ländern?
Ich glaube, es gibt hier ein System der Verantwortung, das man in mehrere Kreise anordnen könnte. Die Kreise der Verantwortung sehen so aus, dass an erster Stelle natürlich jeder für sein eigenes Leben verantwortlich ist. An zweiter Stelle ist der verantwortlich, der sich da eingemischt hat, zum Beispiel Bomben abgeworfen hat oder von außen die dortigen wirtschaftlichen und die Machtverhältnisse umformen wollte. In den dritten Kreis der Verantwortung gehören jene, die den in Not geratenen Menschen am nächsten sind, die Nachbarstaaten und ihre Region. Und es existiert selbstverständlich nach diesen eine universelle, von der Humanität ausgehende globale Verantwortung, der jeden Bürger der Welt betrifft, denn wir sind alle Menschen, und wenn wir auch fern voneinander sind, so sind wir am Ende der Verantwortungskreise oder am Ende der Schlange jedoch als Mensch verantwortlich für unseren anderen Mitmenschen. Natürlich sind wir in erster Linie für die Ungarn verantwortlich, weil der liebe Gott uns diese Verantwortung gegeben hat.
Was folgt hieraus?
Hieraus folgt meiner Ansicht nach, dass ein jeder politischer Akteur der Welt daran arbeiten muss, dass jene Menschen, die geflohen sind, von Zuhause weggegangen sind, dorthin wieder zurückgehen können, weil ein jeder das Recht besitzt, sein eigenes Leben dort fortzusetzen, wo er es begonnen hatte. Deshalb muss die Lage in Syrien geordnet werden, und danach muss jeder, der aus jener Region gekommen ist, dorthin zurückgebracht werden, ja meiner Ansicht nach muss man sie auch juristisch dazu verpflichten, dass sie zurückgehen und den Wiederaufbau jener Welt beginnen, aus der sie weggegangen waren. Hierzu hat meiner Ansicht nach jede europäische Nation das Recht.
Im Zusammenhang mit der Ansiedlung, mit den Quoten scheint auf Grund der Forschungen die Meinung der europäischen Gesellschaft ziemlich eindeutig zu sein, doch betrachten wir die ungarische, also auch die Meinung der ungarischen Gesellschaft. Warum ist trotzdem eine Informationskampagne notwendig?
Zunächst ist dies ein sehr beweglicher Themenkreis, jeden Tag gibt es neue Entwicklungen. Ich werde, nicht wahr, dafür bezahlt, die ungarischen Bürger haben mich dazu auf meinen Arbeitsplatz entsandt, damit ich mich Tag und Nacht mit diesen Fragen beschäftige, und selbst mir fällt es nicht leicht, mich zu orientieren. Wenn ich also bedenke, auf welche Weise ein ungarischer Bürger mit der Absicht des Verstehens die auf uns hernieder prasselnden Nachrichten in irgendeine logische Ordnung bringen kann, dann glaube ich, dass er in keiner leichten Situation ist. Und die Aufgabe der Regierung ist es, die wichtigsten Informationen zu ordnen und die Menschen darüber zu informieren, wie die Lage steht, welche die gerade wichtigen Fragen sind, wo gerade gestritten wird, welche Fragen wir bereits abgeschlossen haben, was beantwortet werden muss, und wenn sie eine Meinung haben, dann muss man den Menschen die Möglichkeit geben, einbezogen zu werden und dass sie ihre Meinung sagen können.
Gehen wir ein bisschen in der Zeit zurück zum Türkei-EU-Gipfel. Das Treffen wurde in der Hinsicht als Erfolg gewertet, dass sich die verpflichtende Quote auf diejenigen nicht bezieht, die jetzt oder die aus der Türkei kommen. Sie gilt aber offensichtlich für jene, die bereits hier im Land sind. Worum ging es eigentlich bei dem Türkei-EU-Gipfel? Darum, dass die Türkei ein Blatt mit Assen in der Hand hält, um in die Europäische Union zu gelangen?
Bei dem Gipfel ging es darum, dass die europäischen Großmächte unbedingt mit der Türkei übereinkommen wollten. Die europäischen Großmächte wollten aus dem Grunde eine Übereinkunft mit der Türkei, weil sie sich selbst zu schwach fühlten, um ihre eigenen Interessen zu verteidigen, und jetzt wollen sie die Türken dafür gewinnen, dass die Türken Europa und die Interessen der europäischen Großmächte verteidigen sollen. Dies ist aus unserer Perspektive eine falsche Logik. Ich habe auf dem Gipfeltreffen der Ministerpräsidenten auch gesagt, wir unterstützen eine Vereinbarung mit den Türken, doch gibt es unserer Ansicht nach hierfür eine Vorbedingung: Wir dürfen nicht als Bettler erscheinen, wir dürfen Sicherheit nicht erbetteln, nicht erkaufen, wir müssen auch sowohl für uns selbst als auch unseren Bürgern sowie den Türken zeigen, dass wir auch aus eigener Kraft in der Lage sind, die Flüchtlingsfrage oder die Migrantenfrage, die neuzeitliche Völkerwanderung zu bewältigen. Wir könnten damit besser umgehen, wenn wir mit den Türken übereinkämen, doch sind wir dazu auch aus eigener Kraft in der Lage. Wer aus eigener Kraft nicht in der Lage ist, seine eigene Sicherheit zu erschaffen, der liefert sich meiner Ansicht nach selbst auch an einem Verhandlungstisch aus. Deshalb haben wir empfohlen, dass wir zuerst die Außengrenzen verteidigen, beweisen sollten, dass wir die Völkerwanderung aufhalten können, und danach sollten wir mit den Türken verhandeln, dies war der ungarische Vorschlag. Diesen haben die Großmächte verworfen, sie sagten, man müsse um jeden Preis, so schnell wie möglich übereinkommen, deshalb haben sie dieses Abkommen ausgehandelt. Wir hätten, obwohl wir ein kleineres Land sind, in dieser Sache unser Veto einlegen können, doch schien mir aus der Perspektive der ungarischen Menschen und auch aus der Europas keine weise Sache zu sein, wenn Ungarn sein Veto gegenüber den Großmächten einlegt, wenn alle Großmächte darin übereinstimmten, dass sie ein Abkommen wollen.
Im Prinzip oder aus der ungarischen Perspektive verstehe ich, was Sie sagen, dass wir uns selbst verteidigen müssen, jedoch ist die Situation angesichts der Praxis der Europäischen Union, dass dies nicht funktioniert. Es war auch niemand in der Lage, Griechenland auf die Finger zu schlagen.
Ja, aber ich hatte vorgeschlagen, dass wir hierzu in der Lage sein sollten, weil dies rein eine Frage des Willens ist. Also ist jene Behauptung unwahr, dass sich Europa gegen die neuzeitliche Völkerwanderung nicht selbst verteidigen könnte. Das ungarische Beispiel, der ungarische Bau des Zaunes, die mitteleuropäische Zusammenarbeit, die Zusammenarbeit der Tschechen, Polen, Slowaken und Ungarn, die Zusammenarbeit der Slowenen zeigt, dass wenn es den Willen gäbe, dann wäre auch die Fähigkeit vorhanden. Das Problem ist, dass es keinen Willen gibt, dass wir, anstelle diesen Willen in uns auszubilden, jetzt mit den Türken übereinkommen wollen. Meiner Ansicht nach bringt dies Europa in eine schlechte Lage, doch jetzt ist es schon egal, wir sind auf diesem Weg losgegangen, drücken wir den Großmächten die Daumen, dass sich schließlich ihre Kalkulation als richtig erweise, und dies eine Lösung bedeute. Eine Sache darf aber auch so nicht eintreten, nämlich dass die Großmächte mit der Türkei ein Abkommen abschließen, auf Grund dessen von dort hunderttausendfach weitere Migranten nach Europa transportiert werden, die sie dann auf verpflichtende Weise unter den europäischen Staaten verteilen wollen. Es gab solch einen Gedanken, dieser Gedanke musste gebremst werden, meiner Ansicht nach ist dies nicht mehr auf der Tagesordnung, doch gibt es immer wieder Versuche sie dahin zurückzubringen. Auch heute gibt es eine Beratung in Europa, zu der man auch von uns um einen Vertreter gebeten hat, und auf der sie diesen Fragenkomplex wieder neu ordnen wollen.
Wenn Sie sagen, dass die Lösung dieser Angelegenheit rein eine Frage des Willens ist, dann sagen Sie damit auch, dass die führenden Politiker der Europäischen Union unausgesprochen, aber bewusst das hervorrufen, was geschieht.
Es gibt hier etwas, was Sie mir nicht glauben und auch die Zuhörer nicht glauben, weil es derart absurd ist.
Aber Sie glauben es?
Ja, ich bin sogar darauf gekommen, dass dies die Lösung ist, worüber man sich natürlich aber niemals sicher sein kann, weil in solchen Angelegenheiten des Geistes gibt es keine Garantie dafür, dass man die Lösung gefunden hat, aber ich glaube, die Lage ist die folgende. Man muss es glauben, was sie sagen. Die Situation ist heute die, dass wenn wir ihnen zuhören, den führenden Politikern der westeuropäischen Großmächte, wenn sie darüber sprechen, dass man die Flüchtlinge hereinlassen muss, dass die Völkerwanderung eine gute Sache sei, diese würde Deutschland verbessern, dann denken wir, dahinter stünde eine politische List. Weil sie in Wirklichkeit etwas anderes denken, sagen wir das, was wir, dass die Völkerwanderung eine schlechte Sache sei, sie müsse aufgehalten werden, sie bringe die Terrorgefahr mit sich, bedrohe unsere Sicherheit, verändere unsere Kultur, wir denken, dies sei auch für sie offensichtlich, nur aus irgendeinem geheimnisvollen Grund sprechen sie es nicht aus. Meiner Ansicht nach sehen wir die Situation falsch. Wir müssen den führenden europäischen Politikern glauben, dass sie auch das glauben, was sie sagen. Sie glauben, das europäische Leben würde dann glücklich, leuchtend, attraktiv werden, wenn wir diese Menschen millionenfach hereinlassen, wenn wir der Einwanderung die Tür öffnen, die Migranten sollen kommen, und sie sagen, dies werde Europa besser machen. Meiner Ansicht nach ist dies ein verrückter Gedanke, doch sie meinen es ernst, und das ist meiner Meinung nach die Auflösung.
Sie haben gestern gesagt, eine bizarre Koalition sei zwischen den Menschenschleppern und den Menschenrechtsaktivisten entstanden, die von außen auch durch führende europäische Politiker unterstützt wird. Ich stelle mir vor, dass es in der nächsten Zeit durch Streit gekennzeichnete Treffen der führenden Politiker der Europäischen Union geben wird.
So ist das Leben.
Aber ist dies schon eine natürliche Erscheinung bei den Treffen der führenden Politiker der Europäischen Union?
Schauen Sie, manchmal ist es schwer. Auch wir sind nur Menschen, also wäre es natürlich gut, annehmen zu können, dass unsere führenden Politiker – auch die ungarische Regierung mit inbegriffen – frei von Emotionen, kühl, nur der bloßen Rationalität folgend, sich von allen Umständen unabhängig machend, quasi als politische Roboter fehlerfreie Entscheidungen treffen. Dem ist nicht so, weil wir Menschen sind. Wir besitzen Gefühle, ab und zu fühlen wir uns übervorteilt, es ärgert uns, dass der andere nicht einsieht, dass wir Recht haben, dass evidente Tatsachen für sie nicht evident sind, wir haben das Gefühl, dass wir schon seit Stunden überflüssig diskutieren, weil der andere es nicht verstehen will, was für uns Ungarn zwei Mal zwei gleich vier ist, oder was auch in Diskussionen zwischen anderen Nationen vorkommen kann. Dort sind also Menschen, und wo Menschen sind, dort ist nicht nur Verstand, sondern auch Herz, nicht nur Ratio, sondern auch Emotion und Geschichte, und unterschiedliche Gedanken über die Zukunft, und das alles brodelt. Und wenn es Spannungen und eine Krise gibt, dann ist das Niveau dieser Spannungen ein höheres, es ist angespannter, aber wir werden die richtige Lösung finden. Die menschliche Welt ist so eine, dass die schwierigen Entscheidungen in solch einem Umfeld gefällt werden, da kann man immer noch gute Entscheidungen treffen. Wir haben so viele gute Entscheidungen getroffen, die Europäische Union ist letztlich ja doch eine phantastische Erfolgsgeschichte, dieser Kontinent ist ja schließlich doch der attraktivste Kontinent der Welt, deshalb wollen sie hierher kommen. Schließlich ist die Lebensweise und Lebensart, die wir hier als Ergebnis langer Jahrzehnte und Jahrhunderte errichtet haben, doch eine der Spitzenleistungen der Menschheit. Also nur deshalb, weil von Zeit zu Zeit Menschen nervös sich streitend, im Konflikt Entscheidungen treffen, ist noch kein Grund, um anzunehmen, dass dies keine guten Entscheidungen sein werden, denn wenn wir nur schlechte Entscheidungen gefällt hätten, stünden wir heute nicht dort, wo wir sind. Europa ist in der Lage, gute Entscheidungen zu fällen, und diese Chance, diese Hoffnung gibt es auch in der Zukunft.
Gibt es unter den vier Visegrád-Staaten weniger Spannungen dieser Art?
Ja. Ich muss sagen, auch da gibt es umstrittene Fragen, weil die Interessen der Länder nicht immer hundertprozentig übereinstimmen, doch ist ihre Zahl erstens gering, und andererseits umgibt uns ein freundschaftliches, kameradschaftliches Gefühl, das aus der gemeinsamen Vergangenheit, der gemeinsamen Geschichte entspringt, deshalb können wir auch leichter damit umgehen. Wir stehen einander näher, als sonst jemand in der Europäischen Union. Wenn ich mit einem Polen eine Diskussion habe, so kann ich sie leichter regeln, als wenn ich sie mit einem Portugiesen hätte. Obwohl ich auch mit dem Portugiesen keine Probleme habe, nur kommt er aus der anderen Ecke des Kontinents. Hier verstehen wir uns auch aus Zeichen, Andeutungen, Gesten, und es ist einfacher, den guten Willen, die gute Absicht zu demonstrieren, als es ist, wenn wir dies in Richtung der weiter von uns entfernt lebenden Völker tun. Es gibt also unter den V4-Staaten viel weniger Konflikte, und die, die es gibt, können leichter geklärt werden.
Sie haben gestern auch noch von der Liquidierung der Nationalstaaten gesprochen. Jene aktuellen Verfahren der Union, die in Vorbereitung sind, oder zum Beispiel dass die Europäisch Kommission jene zivile Initiative auf ihre Agenda gesetzt hat, die die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 7 bedeutet. Halten Sie dies für damit in Einklang stehend, genauer gesagt, dass dies damit zusammenhängt?
Dies ist Rache. Hier geht es darum, dass die Methode des Umgangs mit der Krise, mit der Völkerwanderung, die wir Ungarn und Mitteleuropäer, die V4-Staaten gezeigt hatten, erfolgreich war. Hinzu kommt noch, dass es sich herausgestellt hat, auch die in den westlichen Ländern lebenden Menschen würden lieber diese Lösung wollen, unterstützen eher diese. Deshalb gibt es in Europa führende Politiker, Kreise der Wirtschaft, Menschenrechtsaktivisten, die auf die Ungarn böse sind, da sie – entgegen ihrer Ideologie – bewiesen haben, dass man sehr wohl auf demokratische, mit dem Wunsch der europäischen Menschen übereinstimmende Weise diesen Kontinent verteidigen kann, und jetzt wollen sie Vergeltung üben, suchen nach einem Weg hierfür. Daran ist nichts Besonderes, wie ich schon gesagt habe, wir sind Menschen, nicht nur die Größe, auch die menschliche Kleinkariertheit ist für uns charakteristisch, und die Rache ist Teil der Kleinkariertheit, da müssen wir darüber hinwegkommen, dies werden wir abwenden. Jedoch sollten wir nicht vergessen, dass sich hier zwei große Gedanken einander entgegenstemmen. György Soros und Co., die von ihnen aufrechterhaltenen Stiftungen und deren Aktivisten, ein ansehnlicher Teil der Eurobürokren in Brüssel, eine große Zahl führender Politiker in Europa denken – besonders auf der linken, in der linksliberalen Welt ist dieser Gedanke stark –, dass die Nationen zur schlechten Seite Europas gehören, diese schlechte Dinge sind, aus denen seien die Weltkriege entstanden, hieraus ergäben sich die Konflikte. Wenn es keine Nationen in Europa gäbe, dann wäre hier das Leben fröhlicher. Demgegenüber stehen wir, die sagen, dass es ohne Nationen kein Europa gibt, denn das Wesen Europas geben gerade die Nationen, weshalb wir die Nationen stärken wollen, und sie versuchen die Nationen ihrer Bedeutung zu berauben, ja sie sogar zu liquidieren. In ihren Köpfen ist die Europäische Union dazu da, um die Nationen aufzuheben, über sie hinweg zu schreiten. In unseren Köpfen ist die Union dazu da, um die Nationen zu stärken, sie in Europa stärker zu machen. Das sind die beiden Gedanken, die sich diametral gegeneinander stemmen, und auf der anderen Seite befinden sich bedeutende Kräfte sowohl finanziell als auch von der Macht her, sie sitzen drin in Brüssel und verfügen auch über ein weites Netz von Aktivisten.
Bevor wir zu aktuellen Angelegenheiten übergehen, möchte ich Sie fragen, wenn wir uns in einem halben Jahr über die Migration unterhalten werden, was wird dann in Europa geschehen? Ich verlange nicht, dass Sie eine Prophezeiung aussprechen, doch auf Grund Ihrer bisherigen Erfahrungen und in Kenntnis der führenden Politiker der Union können Sie doch feststellen, wo wir ungefähr sein werden.
Hierbei hilft mir nicht die Kenntnis der führenden Politiker bei der Beantwortung der Frage, obwohl, wie es in dem Gedicht heißt, auch mir stinkt das Prophetentum, dies ist also nicht meine Sache, nicht mein Beruf – es heißt gar nicht „stinkt“, sondern „war ihm zuwider“, ich glaube, das ist der richtige Ausdruck –, also ich würde auch dies von mir abwehren, doch ist das Wesentliche letztendlich doch, dass die Lösung und die Antwort sich bei den Menschen findet. Wir sehen heute also, dass die Absicht, der Wille der europäischen Menschen sich immer weiter von der Absicht und dem Willen der führenden europäischen Politiker entfernt. Dies ist eine aufgehende Schere, dies lässt eine derartige innere Spannung entstehen, eine demokratische, politische Spannung in Europa entstehen, mit der wir im kommenden halben Jahr nicht zusammenleben werden können, irgendetwas muss geschehen. Entweder müssen sich die Menschen ändern oder die führenden Politiker, für das Letztere sehe ich größere Chancen als für das Erstere. Also ich glaube, dass man die Meinung der Menschen früher oder später als politische Realität in Europa wird zur Kenntnis nehmen müssen, man kann nicht entgegen der Menschen politisieren, dies ist heute ein Demokratieproblem in Europa. Ich pflege dies auf die Weise zu formulieren, dass es an der Zeit ist, dass nach dem liberalen Zeitalter nun erneut das demokratische Zeitalter nach Europa zurückkomme. Wenn Europa demokratisch bleiben möchte, dann muss man auch die Frage dieser Völkerwanderung gemäß dem Wunsch der Menschen regeln.
Während in Brüssel ein ziemlich lauter Disput über die Migration geführt wird, gibt es auch eine andere Debatte in Brüssel, die Freihandelsgespräche. Politiker der Rechten, Politiker der Union, die in der Agrarkommission sitzen, haben die Alarmglocken ertönen lassen, weil sie den Eindruck haben, die Sache bewege sich in eine bedenkliche Richtung. Auch Sie haben in Tusnádfürdő über dieses im Entstehen begriffene Abkommen gesprochen. Besitzen Sie irgendeine neue Plusinformation, in welche Richtung sich die Dinge bewegen?
Die wichtigste Information ist nicht, in welche Richtung sich die Dinge gerade bewegen, denn dort sitzen Menschen am Verhandlungstisch, und die werden versuchen, die richtige Richtung zu halten, sondern die, dass inzwischen die Amerikaner mit anderen Freihandelsabkommen abgeschlossen haben. Sie haben also mit ansehnlichen Regionen Asiens Freihandelsabkommen unter Dach und Fach bekommen, und wenn auch scheinbar der Ferne Osten fern von Ungarn ist, wie das auch aus seinem Namen hervorgeht, doch ist dem in der Handelspolitik nicht so. Jene Abkommen werden auch die internationale Konkurrenzfähigkeit der in Ungarn produzierenden und der ungarischen Firmen betreffen. Das abzuschätzen, ob diese Freihandelsabkommen, die die Amerikaner mit anderen geschlossen haben, uns nachteilig oder vorteilhaft berühren, dies müssen wir jetzt verstehen und analysieren, hieran arbeiten wir jetzt, denn dies kann beeinflussen, welchen Standpunkt wir in der Frage jenes Vertrages ausbilden, den wir mit den Amerikanern beziehungsweise sie mit uns abschließen wollen.
Gestern haben Sie auf der Beratung der MÁÉRT [Magyar Állandó Értekezlet, Ständige Ungarische Konsultation] darüber gesprochen, dass die Verbindung von Bildung, Wissen und Wirtschaft eine äußerst wichtige Frage der Nationalstrategie sei. Vermutlich haben die im Bildungswesen Arbeitenden aufgehorcht. Was ist es, das Sie von der ungarischen Bildungspolitik erwarten? Sind Sie zufrieden? Auf diesem Gebiet geht es jetzt in Ungarn laut zu.
Das Wort „Zufriedenheit“ kommt in meinem Vokabular nicht vor, und so lange ich diese Arbeit verrichte, ist es auch richtig, wenn ich es nicht hineinschreibe. Ich sehe, dass nachdem wir nach dem I. Weltkrieg jene unserer Territorien verloren haben, in denen sich der Großteil unserer natürlichen Rohstoffe befindet, jetzt haben wir abgesehen von den landwirtschaftlich zu bewirtschaftenden Böden im Wesentlichen unsere Minen, unsere Energiequellen, unsere Rohstoffe verloren, geblieben ist das, was wir jetzt haben. Unser einziges Glück ist, dass die Ungarn ein gehirnlastiges Volk sind, also mit schneller Auffassungsgabe und ihr Denkvermögen einer Verführung wert ist. Wir glauben im Übrigen, dass das im Falle aller Nationen so sei, doch entspricht dies nicht der Wirklichkeit. Wir sind ein gehirnlastiges Volk und wir können auch aus dem Nichts etwas erschaffen. Deshalb bin ich ein Anhänger der Konzeption, dass wir eine auf Arbeit basierende Wirtschaft erschaffen, und deshalb bin ich Anhänger davon, dass wir unsere geistigen Fähigkeiten, das heißt das Wissen, den Unterricht mit der Wirtschaft verbinden. Es gibt eine solche Möglichkeit. Ungarn ist ein erfolgreiches Land, wenn Sie die 200 Länder der Welt betrachten, dann befinden wir uns irgendwo in der Zone zwischen 45 und 50. Das heißt, dass es mindesten 150 Länder schlechter machen, als wir. Dabei war unsere Geschichte alles andere als eine einfache, sie hat uns eher behindert, als denn uns geholfen. Dies zeigt sehr gut, dass wir aus unserer Arbeit und unserer geistigen Leistung ein gutes Leben, ein glückliches Leben, ein heiteres Leben, ein ausgeglichenes Leben, Wohlstand in einem Land erschaffen können, hieran arbeiten wir. Doch die Voraussetzung hierfür ist, dass sich der Unterricht und die Wissenschaft mit der Wirtschaft verbinden könnten, das heißt zu einer wirtschaftlichen Kraft werden können. Wenn das so weitergeht, wie bisher, dass, sagen wir, in internationalen Tests bei der Erfassung der Leistung des ungarischen Unterrichts sehen, dass die Fähigkeiten der die Schulen absolvierenden Kinder schlechter sind als jene der vorausgehenden Generationen, wenn wir sehen, dass die schulische Leistung, die Fähigkeit des Verstehens, des Textverstehens, der Problemlösung sich nicht bessert, sondern verschlechtert, dann haben wir ein Problem. Dies ist nicht einfach nur eine Verantwortungslosigkeit gegenüber unseren Kindern – das ist es auch, weil wir lassen sie schlechte Schulen besuchen –, sondern zugleich auch die Unterminierung der Möglichkeiten der ungarischen Wirtschaft, weil man mit dummen Menschen, Probleme nicht lösen könnenden Menschen, ungebildeten Menschen, zum richtigen Denken unfähigen Menschen die ungarische Wirtschaft nicht erfolgreich am Laufen halten kann, und wir alle werden hiervon die Folgen tragen müssen. Also ist der Schlüssel des ungarischen wirtschaftlichen Erfolges, dass unsere Kinder eine Ausbildung von guter Qualität erhalten, doch jene Ausbildung muss lebensnah sein, soll mit den Bedürfnissen der Wirtschaft verbunden und von ihr genutzt werden können, und auf diese Weise soll sie die Wirtschaftsleistung Ungarns verstärken. Dies ist heute in Ungarn noch nicht in Ordnung. Ich sage nicht, dass alles schlecht ist, weil ich nicht gerne ins andere Extrem verfalle, aber ich kann auch nicht sagen, dass alles gut sei, ja es gibt sogar besorgniserregende Anzeichen, deshalb sehe ich dies als eine große Herausforderung für das kommende Jahrzehnt an.
Sie hörten in der vergangenen halben Stunde Ministerpräsidenten Viktor Orbán.