Vortrag des Ministerpräsidenten Viktor Orbán auf der Veranstaltung der Hanns-Seidel-Stiftung und des Bayerisch-Ungarischen Forums zum Thema: „Ungarn 25 Jahre nach der Grenzöffnung – 25 Jahre Demokratie und Freiheit in Europa”
am 6. November 2014 in München
Einen schönen guten Abend, ich möchte Sie herzlich begrüßen! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Liebe Gäste!
Ich möchte zunächst kurz darüber sprechen, wieso wir hierher gekommen sind. Herr Ministerpräsident Stoiber führte sehr erhabene Gedanken aus, wir allerdings haben die bayerische Regierung heute aus einem profanen Grund aufgesucht – die Bayern haben eine Bank verkauft, wir wiederum haben eine Bank gekauft. Und weil die Tatsache, dass man über die deutsch-ungarischen Wirtschaftsbeziehungen am Vorabend des 9. November nicht ohne die Geschichte zu erwähnen sprechen darf, die Erhabenheit dieses Geschäfts nur unterstrich, lag es auf der Hand, dass wir uns – sofern Sie uns das ermöglichen – nach den offiziellen Verhandlungen mit den hier lebenden Ungarn, mit den deutschen und bayerischen Freunden Ungarns treffen. Anders ausgedrückt – nach München haben uns Regierungsaufgaben geführt, doch auf diese Veranstaltung heute Abend die Wertschätzung. Dieser Wertschätzung möchten wir Ausdruck verleihen – der Wertschätzung für Deutschland, das uns in den vergangenen 25 Jahren immer unterstützte, für die CSU und für Herrn Ministerpräsidenten Stoiber, denn sie haben Ungarn, aber auch die bürgerliche, nationale und christliche politische Gemeinschaft Ungarns immer gefördert, und wir möchten unsere Wertschätzung auch für die Hanns-Seidel-Stiftung ausdrücken, die in der ungarischen Öffentlichkeit ganz zu Unrecht viel zu wenig beachtet wird, obwohl sie im öffentlichen Leben Ungarns ein immens wichtiger Akteur ist. Es gab sogar eine Zeit, als die Stiftung darin sogar eine Schlüsselrolle spielte, nur dass sich niemand mehr daran erinnert. Denn als 1994 die erste, freie gewählte Regierung die Wahlen verlor und eine postkommunistische Regierung gebildet wurde, war die gesamte Gemeinschaft der bürgerlich, national und christlich gesinnten Gemeinschaft Ungarns einer Gefährdung und der Zersplitterung ausgesetzt. Die Neuorganisierung wäre nicht möglich gewesen ohne solche deutsche Freunde und Stiftungen, wie zum Beispiel die Hanns-Seidel-Stiftung, die das bürgerliche Bündnis unterstützten, aus dem dann der Wahlsieg 1998, der Sieg 2010 mit einer Zweidrittelmehrheit und 2014 der erneute Wahlsieg mit der Zweidrittelmehrheit gewachsen ist. Daher möchte ich für die Hanns-Seidel-Stiftung meine besondere Wertschätzung zum Ausdruck bringen.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Lassen Sie mich gleich zum Anfang meiner Rede Deutschland gratulieren, denn wir müssen dem zustimmen, was Herr Ministerpräsident erklärte, dass nämlich der 9. November eine Art historische Wiedergutmachung sei. Dieser Tag erinnert uns daran, dass die Ordnung in Europa, und damit die gesamte Weltordnung sich gewandelt hatte. Ich kann mich noch gut an einen Gedanken aus meinen Lektüren über die Gründung der NATO erinnern, der davon handelte, wozu die NATO gut sei. Man denke an das Ende der 40-er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Es hieß, es gibt drei Ziele: „keep the Russians out”, „keep the Americans in” und „keep the Germans down”. Von diesem Ausgangspunkt musste man bis 1989, bis zum Mauerfall kommen, und bis 1990, als die Wiedervereinigung vollzogen werden konnte. Wir bedanken uns für die dankbaren Worte, die wir von unseren deutschen Freunden so oft und immer voller Emotionen gesagt bekommen. Ich möchte jetzt diese Sache umdrehen in der Hoffnung, dass hier die Feinheiten der Politik verstanden werden, und darauf aufmerksam machen, dass – meiner Ansicht nach – ohne die deutsche Wiedervereinigung auch Europas Wiedervereinigung nicht vollzogen worden wäre. Horribile dictu, ohne die deutsche Wiedervereinigung hätten auch die ehemaligen kommunistischen Länder die Freiheit nicht erlangen können, unter ihnen auch Ungarn nicht. Das ist einem nicht mehr gegenwärtig, die Zeit verklärt die Erinnerungen, doch 1989 und 1990 war es überhaupt nicht so sicher, dass die erlebte Wende und die demokratische Entwicklung von Dauer ist. Das Gefühl der Rückgängigmachbarkeit hing in der Luft. Doch dass die Zeiten vor 1990 nicht mehr zurückgeholt werden können, dafür gab es eine einzige Garantie: die deutsche Wiedervereinigung. Wenn Deutschland wieder vereint ist, gibt es keinen Weg mehr zurück in die alte Welt. In diesem Sinne diente die deutsche Wiedervereinigung, zu der wir – behaupten wir stolz – auch ein wenig beigetragen haben, nicht nur der Befreiung der Deutschen und der anderen, ihrer Freiheit beraubten Nationen, unter ihnen der ungarischen, sondern auch der Nachhaltigkeit der erworbenen Freiheit. Dafür werden wir den Deutschen immer dankbar sein, so beruhen also Anerkennung und Wertschätzung auf Gegenseitigkeit.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Erlauben Sie mir nun, diese Perspektive von 25 Jahren dafür zu nutzen, dass ich einerseits zurückblicke, andererseits nach vorne schaue. Ein 25-jähriges Jubiläum ist wie nach dem Besteigen eines Bergs den Gipfel zu erreichen, und von oben herunterblickend zu verstehen, auf welchem Weg man soweit gekommen ist, aber auch zu sehen, welcher Weg noch vor einem liegt.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Spricht man von der Vergangenheit, darf nicht unerwähnt bleiben, dass man das 20. Jahrhundert gewöhnlich für kurz hält, nach dem Motto – es dauerte eigentlich nur vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 bis 1990. Doch dieser bei uns als das „kurze 20. Jahrhundert“ bezeichnete Zeitraum, der uns bis zur deutschen Wiedervereinigung führte, hatte einen unerwarteten, viele überraschenden Effekt. Nachdem Deutschland auf demokratischem und friedlichem Wege vereint werden konnte, und das einige Deutschland zum größten Staat in der Europäischen Union wurde, führte diese neue Entwicklung nicht zu Konflikten in der EU, sondern dieser Schritt machte es überhaupt möglich – wenn man jetzt auf die letzten 25 Jahre zurückblickt – dass man heute über eine Zukunft der Europäischen Union sprechen kann. Wenn Sie sich in der Volkswirtschaft der EU-Mitgliedstaaten umschauen, und die Mühen und Anstrengungen, die Probleme und Krisen sehen, von denen die europäischen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gequält werden, und dann einen Blick auf Deutschland werfen, werden Sie auch feststellen, dass sich heute alle von dem im Weltkrieg bis zum Boden zerstörten Deutschland erhoffen, dass es der europäischen Wirtschaft aus der Patsche hilft. Daher müssen wir erklären, dass das kurze 20. Jahrhundert damit endete, dass Europa Deutschland schließlich wieder zu sich hob, dass Europa einsah, dass es ohne Deutschland keine Zukunft hat. Europa hob Deutschland aus der Reihe zweitrangiger europäischer Staaten empor, denn es erkannte, dass ein Europa ohne Deutschland nicht erfolgreich sein kann. Ich glaube, das ist, was auch die weisen, nicht deutschen Staatsmänner bereits 1990 dachten, und betrachtet man heute, im Jahre 2014, die Wirtschaftslage in Europa, ist es klar zu erkennen, dass diejenigen, die damals so gedacht haben, sich nicht geirrt haben. Gäbe es die Wirtschaftslokomotive des vereinten Deutschlands nicht, gäbe es nichts, das der europäischen Wirtschaft helfen könnte, ihre jetzigen Probleme zu lösen. Auch von hier, vom heutigen Tag aus zurückblickend können wir die Entscheidung der europäischen Mächte, Deutschlands Wiedervereinigung zuzustimmen, für einen weisen Schritt halten, der den gesamteuropäischen Interessen diente.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Lassen Sie mich einige Worte darüber sagen, dass diese neue Welt für Ungarn auch zahlreiche neue Möglichkeiten und damit etliche neue Dilemmas mit sich brachte. Als erstes möchte ich eine Sache erwähnen, mit der wir immer noch konfrontiert werden, und das ist der Umstand, dass wir aus einem Rückstand gestartet sind. Deutschland musste nur die eine Hälfte, einen Drittel seines Gebiets vom Kommunismus befreien. Wir in Ungarn hatten kein Westdeutschland, unser gesamtes Land war kommunistisch, und im Gegensatz zu Österreich, das die Russen bereits 1955 verlassen hatten, gingen die Russen aus Ungarn erst 1990 weg. Das hatte und hat bis heute schwere Folgen, denn wir haben in unserer Geschichte, was die Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Entwicklung betrifft, beinahe 40 Jahre verpasst, und bis zum heutigen Tag befinden wir uns im Entwicklungsrückstand verglichen mit den Ländern, die einer solchen Belastungsprobe nicht ausgesetzt waren. Daher sollte man sich, spricht man heute, im Jahre 2014 über Ungarn oder über die anderen zentraleuropäischen Länder, immer vor Augen halten, dass man über Länder spricht, die Tag für Tag darum bemüht sind, einen historisch bedingten Rückstand abzuarbeiten, in einem Umfeld innerhalb der Europäischen Union, in dem diese Länder zusammen und in Konkurrenz leben müssen mit Ländern, die von vornherein einen riesigen Wettbewerbsvorteil hatten. Das stellt für die jeweilige ungarische Politik eine enorme Herausforderung, eine ernsthafte intellektuelle Aufgabe dar.
Die zweite Sache, worauf ich im Zusammenhang mit Ungarn hinweisen möchte ist, dass wir die Welle der neuen Verfassungsgebung in Europa nach dem Kommunismus nicht mitgemacht haben. Vielleicht erinnert sich noch der eine oder andere: Mitte der 1990-er Jahre hat jedes ex-kommunistische Land eine neue Verfassung unter Dach und Fach gebracht, die Rumänen, die Polen, alle. Es gab nur eine Ausnahme, Ungarn. Denn nie kam in Ungarn der politische Konsens zustande, oder es konnte keine parlamentarische Zweidrittelmehrheit zugunsten des einen oder anderen politischen Lagers erreicht werden, das die Ungarn soweit gebracht hätte, dass die politische Voraussetzung für eine neue Verfassung gegeben gewesen wäre, denn dafür braucht man die Zweidrittelmehrheit im Parlament. Deshalb bildete Ungarn eine Ausnahme, als überall, in ganz Europa für selbstverständlich gehalten wurde, dass diese Länder sich eine neue Verfassung geben – schließlich wurde dem Kommunismus ein Ende gesetzt, man richtete sich in der Demokratie und in der Freiheit ein, man näherte sich der Europäischen Union, man legte die wichtigsten Werte ihrer Geschichte, die wichtigsten Grundsätze ihrer Strukturen fest. Daran haben wir uns nicht beteiligt. Damals fiel das niemandem auf. Ich gebe zu, mir war es damals auch nicht bewusst, welche ernsthafte Konsequenzen dieses Versäumnis haben wird. Denn die Folge war, dass es uns erst 2010 gelungen ist, eine parlamentarische Kraft von einem Zweidrittel aufzustellen, das die versäumte Verfassungsgebung nachholen konnte.
Als wir das 2010 geschafft haben, waren wir froh, denn wir sagten uns – endlich, nun können wir tun, was vorher nicht gelungen war: Die Verfassung aus dem Jahre 1949 kann weg, diese vielfach geflickte Verfassung – denn sie war ja an den Alltag angepasst – kann der Vergangenheit angehören, und wir können endlich klar, eindeutig und transparent die Werte und Regeln auf der Verfassungsebene festlegen, die für unser Leben einen Rahmen bilden werden. Wir dachten, dass dies für alle eine Freude bedeutet, doch Europa – das inzwischen nicht mehr gewöhnt war, neue Verfassungen in Ländern entstehen zu sehen, wo es so etwas doch zuletzt in den Neunzigern gab – verstand das, was es damals noch für natürlich hielt, jetzt nicht mehr, und alle dachten, was zum Teufel wollen nun die Ungarn. Dabei wollten wir nur etwas historisch Versäumtes nachholen. Wir taten dies also, und mussten uns dabei zahllosen Diskussionen stellen. Doch heute genießen wir auch die Vorteile davon. Denn nachdem Ungarn wegen der neuen Verfassung, die zu allem Überfluss auch solche Werte definiert, die nach Ansicht etlicher politischer Lager in Europa der Vergangenheit angehören, wie z. B. Patriotismus, Christentum, Familie oder Zusammenhalt, und die ungarische Verfassung sich dazu auch noch bekennt, dass diese aus der Vergangenheit stammen, doch beibehalten werden, sogar in der Zukunft, etwas verdächtig schien, wurde diese Verfassung angegriffen. Die Europäische Union prüfte und durchleuchtete uns von oben bis unten, von Kopf bis Fuß, doch heute kann erklärt werden, dass es in der EU nur eine Nation, nur ein Land gibt, das von einer zuständigen Institution in Bezug auf die demokratischen Werte geprüft wurde, und zwar von der EU-Kommission, der auch der Titel „Hüter der EU-Vertrags“ gebührt, und das ist Ungarn.
Von dieser Warte aus ist es besonders unverständlich, dass ein Land, dass einer gründlichen Prüfung unterzogen, bezüglich seiner in der Verfassung erklärten Werte überprüft wurde, immer noch im Kreuzfeuer der Kritik steht, obwohl so einer Untersuchung kein anderes Land außer Ungarn ausgesetzt war. Doch diese Untersuchung ist durchgeführt worden, sie ist abgeschlossen. Vielleicht erinnert sich noch jemand daran, dass es zwischen der Europäischen Kommission und Ungarn noch fünf Streitpunkte gab: In vier Punkten konnten wir uns einigen, bezüglich eines Punktes wandten wir uns ans Gericht. Da unterlagen wir und zogen die entsprechenden Schlüsse, die nötigen gesetzlichen Bestimmungen wurden geändert, so dass unser gesamtes Verfassungssystem nunmehr eurokonform ist. Heute ist das eine Tatsache, die wir in den jetzt geführten, und in den zukünftigen Diskussionen zu Hause in Ungarn und in den ungarnfreundlichen Gemeinschaften überall in der Welt noch brauchen werden, schon deshalb hielt ich es für wichtig, darüber zu sprechen.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Die nächste Sache, womit wir rechnen müssen ist etwas, worüber wir von diesem Gesichtspunkt aus möglicherweise noch nie gesprochen haben. Dadurch nämlich, dass Ungarn der Europäischen Union beigetreten ist, folgte es der Entscheidung seines Königs, dem Heiligen Stephan vor tausend Jahren in einer modernen Form, denn es entschied sich wieder für den Westen, als es durch eine Volksabstimmung der EU und der NATO beigetreten ist. Unser Platz ist dort, wo wir hingehören, im Westen, in der europäischen Gemeinschaft. Man spricht selten darüber, dass wir dadurch nicht nur Möglichkeiten, Sicherheit und Perspektiven erwarben, sondern auch die Sorgen der Europäischen Union auf uns geladen haben. Denn die Welt ist nicht so aufgestellt, dass nur wir Probleme in die EU getragen haben, sondern dass auch die Probleme der EU, die uns bis dato nicht betrafen, plötzlich auch die unsrigen geworden sind, und das ist bis zum heutigen Tag so. Vielleicht ist es richtig, wenn ich diese heutige Zusammenkunft auch dafür nutze, einige größere Probleme beim Namen zu nennen, mit denen die gesamte europäische Gemeinschaft zu kämpfen hat, und Ihnen darüber berichte, wie Ungarn diesen Problemen begegnet, denn es ist unsere Überzeugung, dass Ungarn nicht zu den Problemen, sondern zu den Lösungen gehört und auf einigen Gebieten beachtenswerte Ergebnisse erreichte, es neue Mittel und Methoden ausprobierte, die anderswo in Europa noch nicht bekannt sind.
Zunächst sollte man an dieser Stelle darüber sprechen, dass Ungarns Existenz dadurch stark beeinflusst wird, was meiner Meinung nach auch Ihr Leben tagtäglich bestimmt, dass das europäische Projekt – wie man das in Brüssel auszudrücken pflegt, bedeute, was es wolle, denn dort spricht man eine Sprache, die man nicht immer genau versteht, doch wer zum Kreis gehören möchte, muss diese Sprache beherrschen, also dass das europäische Projekt – ins Stocken geraten ist. Ich denke jetzt nicht daran, dass es Länder gibt auf dem Balkan, z. B. Serbien, die noch nicht in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. Ich spreche jetzt nicht darüber, obwohl das europäische Projekt auch in dieser Hinsicht stockt, sondern über die Eurozone. Hier handelt es sich um ein Problem, womit sie täglich innerhalb, und wir täglich außerhalb des Euroraums leben. Damit eine gemeinsame Währung erfolgreich wird, damit die Währungsunion die an sie geknüpften Hoffnungen erfüllt, müssen noch einige Voraussetzungen erfüllt werden: Man muss den Weg in Richtung Finanzunion, Haushaltsunion und eine Art politische Union antreten, doch dieses Projekt steckt heute fest. Damit ist es zu erklären, dass zwar einige Länder, so auch Deutschland, sich an die Regeln halten, die von der EU in Bezug auf die Finanzen vorgeschrieben werden, doch nicht alle Länder des Euroraums. Momentan kann das auch nicht erzwungen werden, zumindest ist es zweifelhaft, ob das erzwungen werden kann. Zurzeit funktioniert das gesamte Währungssystem nicht optimal. Das ist ein Problem, mit dem wir Ungarn auch leben müssen, obwohl wir nicht in der Eurozone sind, doch dieser fehlende Abschluss verschlechtert die Wirtschaftsleistung der Eurozone, und 85 Prozent der ungarischen Ausfuhr geht in die Eurozone, so wirkt diese Erfolglosigkeit auf indirektem Wege auch auf Ungarn. Ungarn ist daran interessiert, auch wenn es kein Staat des Euroraums ist, dass das europäische Projekt, die gemeinsame Währung und alles, was damit verbunden ist, erfolgreich umgesetzt und abgeschlossen wird, denn sollte das nicht gelingen, verliert Ungarn die Dynamik eines seiner Märkte. Und der EU-Markt ist ein dynamischer Markt und eine wichtige Voraussetzung des ungarischen Aufschwungs.
Der zweite Themenkreis, den es anzusprechen gilt, hängt auch mit Europa zusammen. Darüber müsste man lang und ausführlich sprechen, doch notgedrungen werde ich nur skizzenhaft und kurz darauf zu sprechen kommen. Wenn man die Fakten den Zahlen entnimmt, erkennt man, dass Europa an der Weltwirtschaft, an der Industrieproduktion der Welt und am Welthandel einen immer mehr geringeren Anteil einnimmt. Das erschütterte unser Selbstbild, das Selbstbild der europäischen Bürger. Auch wir waren der Ansicht, dass wir einer Gemeinschaft beigetreten sind, die zu den Wirtschaftsräumen gehört, die sich in der Welt am schnellsten entwickeln, die am meisten dynamisch und perspektivisch sind, welche die größte Konjunktur aufweisen. Und nun stehen wir hier und merken, dass wir kaum, andere wiederum enorm wachsen, und deshalb unser Anteil an der Weltwirtschaft laufend schwindet. Es stellt heute, 25 Jahre nach der Wiedervereinigung, für die europäische Gemeinschaft ein Problem dar, diese Tatsache zuzugeben. Heute sind wir erst soweit, dass die politische Elite Europas diese Tatsache nicht einräumt, oder wenn doch, dann hinter geschlossenen Türen, doch nicht vor der Öffentlichkeit. Natürlich gibt es da keine Zweifel, dass Europa immer noch den Teil der Welt darstellt, in dem es sich gut leben lässt, und ein Europäer kann sich nur schwer vorstellen, dauerhaft anderswo als in Europa zu leben, weil hier wohl die Freiheit am größten ist, die größte Toleranz herrscht, weil es hier den größten Raum für das Privatleben gibt, und überhaupt findet man hier diese reiche Kultur, ohne die ein europäischer Mensch sein Leben für wertlos oder für weniger wertvoll hält. Da bestehen keine Zweifel. Doch auch die Tendenz muss gesehen werden, denn die ökonomischen Fundamente dieser Welt werden immer kleiner, und solange man dieser Tatsache nicht ins Auge sieht, solange man nicht ausspricht, dass ein nachlassender Wirtschaftsprozess gestoppt und ein ungünstiger weltwirtschaftlicher Trend umgekehrt werden muss, bis das nicht erklärt wird, werden wir auch keine Lösungen finden. Wenn wir keine guten Fragen stellen, erhalten wir auch keine guten Antworten.
Die dritte wichtige Frage, mit der sich auch Ungarn als Mitgliedstaat der Europäischen Union befassen muss, ist die Arbeitslosigkeit. Ich weiß, dass diese von hier, von München aus nicht sichtbar ist. Ich führte heute mit dem Herrn Ministerpräsidenten ein Gespräch, und er erzählte mir, dass in Bayern die Arbeitslosenquote 3 Prozent ausmacht, was praktische gesehen einer Vollbeschäftigung gleichkommt. Eine Arbeitslosigkeit von 3 Prozent bedeutet, dass eigentlich ein jeder einen Job hat. Europa dagegen wird von viel schlimmeren Zahlen gekennzeichnet. In Ungarn beträgt die Arbeitslosigkeit 7,5 Prozent, eine sehr hohe Zahl, und nur teilweise macht die Tatsache das Bild erträglicher, dass sie vor 4 Jahren noch bei 12 Prozent lag. Es ist meine Überzeugung, dass in Europa die Vollbeschäftigung zum Ziel gesetzt werden muss, doch dafür muss in unserer wirtschaftspolitischen Einstellung ein Wandel vollzogen werden. Die Veränderungen, die Ungarn durchgeführt hatte, können in diesem Sinne auch für andere Länder eine Lösung bedeuten, doch in zahlreichen Ländern fanden diese noch nicht statt, und deshalb ist es auch nicht gelungen, die Arbeitslosigkeit zu senken. In Ungarn haben wir diesbezüglich Grundsätze formuliert. Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben, dass in Ungarn die einheitliche Lohnsteuer, die flat tax 16 Prozent beträgt, dafür aber die höchste Umsatzsteuer, Verbrauchersteuer in Europa gezahlt wird, doch die Einkommenssteuer beträgt nur 16%, und es gibt keine Erbsteuer. Die Familien werden generell nicht mit Steuern belastet, die der Motivation, einer Arbeit nachzugehen, entgegenwirken würden, denn unser Ziel ist es, den Menschen klar zu machen, dass es sich lohnt mehr zu arbeiten, weil wer mehr arbeitet, auch mehr verdient, und dass es sich mehr lohnt, auf dem Arbeitsmarkt für den Lebensunterhalt zu sorgen, als auf die staatliche Versorgung zu bauen. Dieses Steuersystem mit einem niedrigen Steuersatz geht in Ungarn mit einer flexiblen Arbeitsmarktregelung einher. In Ungarn gibt es vielleicht das flexibelste Arbeitsgesetzbuch in ganz Europa, das der Slowakei könnte noch in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Und es gibt eine staatliche Politik, die deutlich machte, dass sie statt Hilfen lieber Arbeit geben möchte. Deshalb behaupte ich, dass die Lösung für die Krise in Ungarn, dass ein wichtiger Bestandteil des ungarischen Modells ist es, dass dort, wo der Markt nicht in der Lage ist, den Menschen Arbeit zu geben – bei uns gibt es sehr viele gering qualifizierte Arbeitskräfte –, und wir diese Menschen nicht mit Beihilfen unterstützen wollen, wir für Beschäftigungsmöglichkeiten sorgen müssen, die nur der Staat bieten kann. Möglichst so, dass die Menschen nicht in diesem System der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verbleiben, sondern von dort weiter, auf den Arbeitsmarkt kommen können. Ich weiß es nicht, ob es bei Ihnen so ein Problem gibt, das wir in Ungarn in einer Größenordnung von mehr als Hunderttausend bekämpft haben. Was ich weiß ist, dass es bei uns Kinder gibt, die groß werden, ohne dass sie ihre Mutter oder ihren Vater je dabei beobachten konnten, dass diese früh aufstehen, um zur Arbeit zu gehen. In Ungarn lebten und leben immer noch hunderttausende solche Familien. Als wir die Regierung übernommen haben, gab es 550.000 solche Familien, in denen das Familienoberhaupt oder ein anderes Familienmitglied statt von der Arbeit von der Sozialhilfe zur Einkommensergänzung lebte. 550 Tausend! Heute gibt es 170.000 solche Familien in Ungarn, und sollten unsere Pläne in Erfüllung gehen, wird diese Zahl 2018 eine Null sein. Bis 2018 werden wir in der Lage sein, jedem Menschen in Ungarn, der willens ist zu arbeiten, eine Beschäftigungsmöglichkeit zu bieten, selbst wenn im Rahmen des öffentlichen Arbeitsbeschaffungsprogramms, doch wir werden eine Möglichkeit zu arbeiten bieten, und statt Sozialhilfe einen Arbeitslohn zahlen. Statt der Politik des „etwas für nichts“ machen wir eine Politik des „etwas für etwas“. Ich bin davon überzeugt, dass wenn andere europäische Länder mit ähnlich hoher Arbeitslosigkeit sich nicht zu ähnlichen Lösungen bekennen, sehr schwer haben werden, dieses Problem zu überwinden. Die Lösung, dass man darauf wartet, dass Arbeitsplätze allein vom Markt geschaffen werden, hat meiner Ansicht nach in der heutigen Zeit keine Gültigkeit.
Ich möchte Ihnen auch das Problem nicht enthalten, bei dessen Lösung wir von unseren deutschen Freunden eine große Hilfe erfahren haben, ganz besonders von der deutschen Industrie, denn sie haben uns dabei unterstützt, in Ungarn das System einer qualitativ hochwertigen Ausbildung für Arbeitskräfte einzuführen und die duale Berufsausbildung zu übernehmen, die unser Ansicht nach eine tragende Säule des wirtschaftlichen Erfolgs der Deutschen darstellt. Wir sind noch nicht ganz auf das neue System umgestiegen, doch Jahr für Jahr fangen immer mehr junge Menschen eine Fachschule an, die nach der Logik der deutschen Berufsausbildung ausgerichtet ist, und hierbei spielt die deutsche Industrie eine führende Rolle. Gerade gestern fiel in Győr der Startschuss für ein neues Modell von Audi, es war für einen ein schönes Erlebnis, ganz besonders, wenn man ein Auto der Serienproduktion übergibt, das man selbst nie im Leben fahren wird – einerseits weil man Angst davor hat, denn es ist viel zu schnell, andererseits weil es viel zu teuer ist. Doch es war schön zu sehen bei dieser Übergabe, dass Audi in Győr Dutzende junge Facharbeiter ausbildet, die später im Audi-Werk beschäftigt werden, und es arbeiten mehr als tausend Ingenieure im ungarischen Audi-Werk, mehr als die Hälfte erlangten ihre Qualifikation im gemeinsamen Studiengang der Universität Győr und des Audi-Werks in Győr. Das sind phantastische Dinge, und in dieser Hinsicht sind wir der deutschen Industrie Dank verpflichtet.
Ein Problem, womit früher nur Europa zu tun hatte, wurde auch unser Problem – und dieses heißt Migration. Die Flüchtlingsfrage, mit der wir konfrontiert werden. Vorausschicken möchte ich denjenigen, die Ungarn nicht so gut kennen, dass in unserem Land bis heute keine solche eingewanderte Gemeinschaft lebt, die ihr Leben nach einem kulturell von den Ungarn abweichenden Muster führen würde. Bei uns gibt es also nicht-christliche Migranten, zum Beispiel Migranten mit moslemischem Hintergrund so gut wie keine. Selbst wenn es welche gibt, erreichen sie höchsten das Eintausendstel, und wir möchten auch, dass es dabei bleibt. Sehr viele mögen das für einen unzivilisierten Standpunkt halten, doch ich bin anderer Ansicht. Ich mag die Scheinheiligkeit nicht, lasst uns klare Worte sagen: Ungarn wäre noch nicht in der Lage, einen Haufen Probleme zu lösen, die sich aus der Migration ergeben würden, daher vertritt Ungarn auch in der Einwanderungspolitik den Standpunkt, dass man selbstverständlich allen in Not geratenen Menschen helfen muss. Dessen Leben also in Gefahr ist, der aus politischen Gründen verfolgt wird, dem muss geholfen werden, so wie es die europäische und die christliche Moral diktiert, und wenn es sich ergibt, muss man diese Menschen auch aufnehmen. Doch keiner wird der Ansicht sein, dass die Flüchtlingswelle, die Europa überschwemmt, nur aus politischen Flüchtlingen bestehen würde. Es gibt niemanden, der das wirklich glauben würde. Daher muss eine detaillierte, intelligente und sensible Flüchtlingspolitik her. Ansonsten kommt es soweit, dass Europa zu einem Magnet wird, das alle anzieht, ohne auf die Eingliederung dieser Menschen vorbereitet zu sein, und das wäre für alle schlecht. Deshalb sind wir für eine Lösung, und das vertreten wir auch auf europäischer Ebene, dass die Grenzen geschlossen werden müssen, um die Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen aufzuhalten, doch eine Politik eingeführt werden muss, die das Geld für Menschen, die zu uns kommen, nicht hier überreicht, sondern dahin schickt, wo die Flüchtlinge ursprünglich gelebt haben. Probleme müssen dort behoben werden, wo diese entstanden sind. Und man sollte eine Außenpolitik betreiben, die vielleicht nicht überall demokratische Regime unterstützt, doch Regimen hilft, die in der Lage sind, Stabilität zu gewähren, die zu einer Politik fähig sind – früher waren Syrien und Libyen auch solche Länder –, welche der Einwanderung Einhalt gebieten kann. Aus europäischer Sicht, aus ideologischen Gründen geführte außenpolitische Handlungen hatten häufig zum Ergebnis, dass in der einen oder anderen Ecke der Welt ein solches Durcheinander entstand, dass dann auf Europa eine Flüchtlingswelle zurollte. Das ist etwas, worüber man ehrlich sprechen sollte. Das sind Fehler, außenpolitische Fehler, die man studieren, interpretieren muss, und die darf man nicht immer wieder begehen. Deshalb meine ich, dass die Flüchtlingsfrage enttabuisiert werden muss, sie darf kein Tabu bleiben, man muss klar und gerade heraus darüber sprechen. Man muss Lösungen vorschlagen, die unsere Interessen und die Interessen der in Not geratenen Menschen gleichzeitig berücksichtigt, und beiden eine Lösung bietet.
Wir in Ungarn lehnen auch die Einstellung ab, wonach Einwanderer gebraucht werden, damit es Menschen gibt, die bestimmte Arbeiten verrichten. Nach unserer Auffassung muss eine nationale Gemeinschaft ihr Leben so organisieren, dass auch die am wenigsten geschätzte Arbeit von jemandem erledigt werden kann. Es darf keine Lösung sein, Menschen aus dem Ausland zu holen, die dann die Jobs machen, die wir aus irgendeinem Grund nicht bereit sind zu übernehmen. Das zeugt nicht von einer gesunden Seele. Ein Land muss unserer Ansicht nach in der Lage sein, all die Tätigkeiten, die für die Existenz und den Unterhalt des Landes erforderlich sind, auszuüben. Und sollte es darum gehen, dass zu wenig Arbeitskräfte vorhanden sind, kann man zwei Sachen machen. Zum einen muss man sich im eigenen Land umschauen, wo sich noch Ressourcen finden. Ich möchte allen die Zigeunerfrage, die Angelegenheit der Roma ins Blickfeld rücken, in ganz Europa, nicht nur in Ungarn. Wir sprechen von einer europäischen Gemeinschaft, die mehr als zehn Millionen Menschen zählt, nur in Ungarn mehrere hunderttausend. Diese Menschen stellen eigentlich eine bedeutende Reserve an Arbeitskräften dar, vorausgesetzt, man hat eine gute Politik, die diesen Menschen eine Ausbildung gewährt und sie zum Arbeitsmarkt führt. Ab September 2015 müssen in Ungarn alle Kinder ab drei Jahren den Kindergarten besuchen. Von dieser Pflicht können einen auf Wunsch der Familie nur die Kommune, der Notar, die lokalen Gremien befreien, doch im Sinne der wichtigsten Regel beginnt man bei uns ab 3 mit der Eingliederung der Kinder in eine kulturelle Ordnung, an deren Ende angekommen, sie als qualifizierte junge Leute die allgemeinbildende Schule verlassen werden – so hoffen wir. Wenn wir damit nicht im Alter von 3 Jahren beginnen, fangen sie später, mit sechs, die Schule mit solchen Benachteiligungen an, die dann zu Unterschieden unter den Kindern führen, welche zu überwinden kaum möglich ist. Was ich damit signalisieren möchte ist, dass es Lösungen gibt, die nicht den Weg des leichteren Widerstands, also die Migration bevorzugen, sondern uns den schwierigeren, den aus moralischer Sicht besseren Weg beschreiten lassen, in Richtung Mobilisierung der eigenen Reserven.
An dieser Stelle muss man auch über das Thema Familie sprechen, dass meinem Eindruck nach in der Europäischen Union auch als eine Art Tabuthema gilt. Die Familien muss man unterstützen. Die Familien müssen gefördert werden, damit sie Kinder bekommen, damit sie zu den Kindern Ja sagen, damit sie ihre Kinder in Sicherheit wissen, damit sie das Gefühl haben, vor ihren Kindern liegt eine angemessene Zukunft. Wir müssen erreichen, dass der Bevölkerungsrückgang aus eigener Kraft, ohne Einwanderung, mit Hilfe einer neuen Familienpolitik aufgehalten und umgekehrt wird. Mir ist bewusst, dass dies heutzutage in die Welt der Science Fiction gehört, denn wenn man die Zahlen und Trends sich anschaut, und auch die heutige Zeit in der wir leben kennt, scheint das ein recht hoffnungsloses Unterfangen. Ferenc Deák erklärte als Leitmotiv der ungarischen Politik, dass er auch ohne Hoffnung kämpfen könne. Auch hier geht es um eine solche Situation. Er hat auch ohne Hoffnung auf Erfolg gekämpft, und daraus wurden dann der Ausgleich mit Österreich und der Aufschwung in Ungarn. Diese Geschichte ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass es scheinbar hoffnungslose Kämpfe gibt, die aber ein hoffnungsvolles Ende nehmen können, steht man zu diesen. Ich also bin sicher, dass man nicht den Weg des leichteren Widerstands wählen darf, dass man die Familienpolitik nicht vergessen, die fehlende Arbeitskraft nicht durch Migranten ersetzen darf, sondern sehr wohl in Richtung Unterstützung der Familien Maßnahmen setzen muss, die – das möchte ich noch einmal betonen – von uns sehr große Anstrengungen verlangen.
Als europäisches Problem müssen wir, meine verehrten Damen und Herren, geehrte Vertreter der Stiftung, geehrter Herr Ministerpräsident, auch das Energiethema ansprechen. Schon sind wir bei einem anderen Tabuthema. Ich bin nicht hergekommen, um Sie zu provozieren, doch das tue ich eben. Die Nebenkriegsschauplätze sind auch wichtig, nicht nur der Hauptkriegsschauplatz. Es muss deutlich erklärt werden, dass die Art von Subventionen, mit deren Hilfe die reichen Länder in der Lage sind die alternativen Energiequellen zu fördern, den armen Ländern nicht zur Verfügung stehen. Egal was wir über den Wert der unterschiedlichen Energiequellen denken, die Wahrheit ist doch, dass Ungarn nicht in der Lage ist, eine solche alternative Energiepolitik zu betreiben, wie Deutschland, weil es die vielen Milliarden Euro einfach nicht hat, was der deutsche Staat z. B. für Subventionen ausgibt. Das ist bei uns nicht möglich. Die zweite Sache, womit wir als europäisches Problem rechnen müssen, und das wir uns durch den Beitritt aufgeladen haben ist, dass man in den Vereinigten Staaten, die zu unseren stärksten Konkurrenten zählen, wobei sie auch unsere militärischen Verbündeten sind, die Hälfte oder ein Drittel der europäischen Preise für die Energien zahlt, und wir für sie bei solchen Energiepreisen keine Konkurrenz bedeuten. Es gibt keine Industriepolitik, ich sehe auch keine Möglichkeit dafür, die einen solchen Nachteil im Energiebereich anderswo, in einem anderen Bestandteil der Produktivität auszugleichen vermag. Diese jetzige Situation verurteilt uns zur Niederlage. Die ungarische Regierung ist der Ansicht, und diesen Standpunkt vertreten wir auch in Europa, dass in der Frage der Energie der wichtigste Punkt der des Preises ist – wie können wir billig Energie herstellen, damit die ungarische und die europäische Industrie wettbewerbsfähig bleibt in der Konkurrenz mit Übersee. Daher werden in Ungarn die Atomkraftwerke nicht geschlossen, sondern weiterentwickelt und ausgebaut, weil es unsere Überzeugung ist, dass ein Land, das über keine anderen eigenen Energiequellen verfügt, nur auf diese Weise Strom billig herstellen kann.
Meine verehrten Damen und Herren!
Darüber hinaus sind wir auch der Meinung, dass man über den ganzen Energiesektor anders denken sollte. Ich weiß, dass dies in Deutschland nicht möglich ist, doch in Ungarn schon. Zu Hause halten wir den Energiesektor nicht für einen Gewerbezweig – und deswegen sind wir vielen Konflikten ausgesetzt – sondern für einen Dienstleistungssektor, und zwar für einen Nonprofit-Anbietersektor, dessen Existenz nicht darin begründet liegt, dass er Profit erwirtschaftet, sondern dass er den anderen Industrie- und Gewerbezweigen billige Energie zur Verfügung stellt, damit jene Gewinne erzielen können. Das ist eine völlig andere Einstellung, als die der Regelungen, die uns in der Europäischen Union umgeben. Ob andere Länder diese übernehmen können, ist fraglich, doch das Beispiel Ungarns ist auf jeden Fall eine Überlegung wert.
Zuletzt muss man an dieser Stelle über die souveräne Schuldenkrise sprechen, die in den Ohren wie ein fremder Begriff klingt, doch eigentlich nur die simple Wahrheit beinhaltet, dass man das Geld, das man nicht durch Arbeit sich verdient hatte, nicht ausgeben darf. Denn mit der Europäischen Union haben wir uns durch den Beitritt auch eine Denkweise, eine Haltung aufgeladen, die behauptet, dass es möglich ist eine Wirtschaft aufzubauen, indem man das Geld zuerst ausgibt und erst danach verdient. Eine attraktive Idee, wir alle hätten es gern, wenn man auch so leben könnte, doch Jahr für Jahr, von Epoche zu Epoche stellt sich dann heraus, dass so eine Ökonomie noch nicht erfunden wurde. Man muss also arbeiten, verteilt werden kann nur, was hergestellt worden ist, man muss die finanziellen Grundlagen schaffen, die man aus welchen edlen Gründen auch immer, später im Haushalt verteilen möchte. Umgekehrt geht es nicht. Wenn wir das anders herum machen, kommen wir dahin, wo sich jetzt mehrere Länder Europas gerade befinden, und wo die gesamte Eurozone eigentlich steht – wir leben ständig von Krediten, wir verbrauchen unsere Zukunft, vermachen unseren Kindern und Enkelkindern Schulden, damit wir es jetzt bequem haben. Das mag bequem sein, doch moralisch gesehen keineswegs ein erhebendes Verhalten, und sogar das Ende ist bereits abzusehen. Denke man nur an Griechenland, doch ich könnte auch einige andere Staaten erwähnen. Es handelt sich hier um eine Bahn, auf die man nicht geraten sollte. Ungarn hat enorme Anstrengungen unternommen, damit es diesen Weg verlassen kann, denn bis 2010 war es auf diesen Weg unterwegs. Es werden sich wenige daran erinnern, doch nicht Griechenland war der erste Staat in Europa, der infolge der Krise finanziell am Rande des Zusammenbruchs stand, das war nämlich Ungarn. Wir brachen 2008 zusammen, und wären uns die IWF und die EU zusammen nicht zur Hilfe geeilt, hätten wir das ganze Land begraben können. Dass es doch nicht zum Zusammenbruch kam, bzw. dass uns aus diesem Zusammenbruch die Europäische Union und der IWF gerettet haben, gleicht einem Wunder. Dadurch bekamen wir Luft, und bis 2010 waren wir dann soweit, dass wir auch ohne die EU und den IWF in der Lage waren, uns – Mund und Nase – über Wasser zu halten, als Ergebnis einer gewaltigen Arbeit, unter enormen Opfern. Wir dürfen also auf die Disziplin in finanziellen Angelegenheiten nicht verzichten, wir dürfen auf die gerechte Verteilung der Lasten und auf das Steuersystem zur Steigerung der Leistung nicht verzichten. Ein Steuersystem zur Steigerung der Leistung bedeutet soviel, dass in erster Linie für diejenigen Reize geschaffen werden, die arbeiten.
An dieser Stelle sind wir bei einem sehr heiklen Problem angekommen, das in der europäischen Psyche tief verwurzelt ist – und zwar zur Einstellung zum Thema der Vermögensunterschiede. Ich erlebe Tag für Tag, dass die EU die Vermögensunterschiede und die Zunahme dieser mit negativen Attributen versieht und beschreibt. Dabei ist es nur natürlich, dass diejenigen, die arbeiten, die mehr arbeiten, die begabter sind, die mehr Risiken eingehen, sich schneller entwickeln, als diejenigen, die solche Risiken nicht auf sich nehmen. Daher muss man meiner Überzeugung nach diese Kultur des Neids, die Kultur der Abneigung gegen Menschen, die ihr Vermögen erfolgreich vermehren, umwandeln werden in eine Kultur der Anerkennung von Leistung. Das wird keine einfache Sache sein, ganz besonders nicht für uns, die wir aus dem Kommunismus kommen, der ein egalitäres System war, doch ich bin davon überzeugt, dass die bestehenden Vermögensunterschiede viel mehr als motivierende Kräfte betrachtet werden müssen, als für eine Ungerechtigkeit gehalten zu werden, die man beseitigen, künstlich regeln will. Anders ausgedrückt, bedeutet die Demokratie für uns nicht die Fortsetzung des Klassenkampfs mit friedlichen Mitteln. So ein Denken wollen wir nicht akzeptieren, denn die Folge wäre eine untergehende Gesellschaft mit nachlassender Leistung.
Meine verehrten Damen und Herren!
Das sind die sechs bis sieben großen Fragen, mit denen sich heute Europa gleichzeitig befasst und als Teil Europas auch Ungarn. Als zusammenfassende Erklärung der Geschehnisse in Ungarn möchte ich noch Folgendes hinzufügen. Es reicht nicht aus, diese Fragen einzeln zu beantworten. Eine jeweilige Antwort zu finden auf diese sechs bis sieben Fragen einzeln ist auch nicht einfach, es gelingt kaum jemandem, auch uns nicht unbedingt. Doch die schwierigste Aufgabe, die wir lösen müssen ist, dass wenn die Fragen bekannt sind und auch die Antworten auf diese, sie in ein funktionierendes System integriert werden müssen. In ein funktionierendes System müssen die Vollbeschäftigung, die Belebung der Unternehmungen, die billige Energieversorgung, die Unterstützung der Familien, die Wende in der demografischen Entwicklung, die neue Migrationspolitik eingebaut werden, all das muss in ein logisches System integriert sein. Das bleibt natürlich innerhalb des Rahmens von Marktwirtschaft und Demokratie, doch jeder Staat muss die Antworten selbst finden, und diese zusammenfügen in einem funktionstüchtigen System. Wir bezeichnen es als das ungarische Modell, von dem man momentan den Eindruck hat, dass es funktioniert. Darüber sind wir manchmal selbst erstaunt, doch die Sache ist so, dass es funktioniert.
Ein bekannter Vergleich in der Politik ist, in dem man solche Modellversuche mit der Wespe vergleicht. Biologen und Physiker haben nachgewiesen, dass wenn man die verschiedenen physiologischen Parameter einer Wespe misst, wie groß ihr Unterleib, wie kurz ihre Flügel sind, was sie wiegt, einem klar wird, dass im Sinne der Gesetze der Physik die Wespe eigentlich überhaupt nicht fliegen kann, das ist völlig ausgeschlossen. Doch siehe da, die Wespe fliegt trotzdem. Jetzt ist das ungarische Modell so eine Sache, von dem jede Woche bewiesen wird, dass es so zusammen nicht möglich ist, dass es so nicht funktionieren kann. Doch irgendwie ist die Sache doch so, dass zurzeit selbst laut Prognosen der EU, die gestern veröffentlicht wurden, das Wirtschaftswachstum in Ungarn auch in diesem Jahr für über 3 Prozent schätzen, das ist dreimal so hoch, wie das durchschnittliche Wachstum in Europa. Die Arbeitslosigkeit geht kontinuierlich zurück, die Staatsverschuldung sinkt und überhaupt zeigen die Kennzahlen, mit denen die Volkswirtschaft beschrieben werden kann, in Bezug auf Ungarn eine positive Tendenz. Das erfüllt uns mit Zuversicht, und mit der nötigen Bescheidenheit aber auch mit dem erforderlichen Selbstvertrauen stellen wir uns der europäischen Öffentlichkeit und erklären, dass Ungarn – das seine Hausaufgaben gemacht hat – auf die sehr schweren Dilemmas, die sich aus der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ergeben, sich im Laufe der Jahre sorgfältig und gründlich verschiedene Lösungen erarbeitete, die im Falle Ungarns scheinbar auch funktionieren. Mit allem Respekt möchten wir den andern Mitgliedstaaten der Europäischen Union Ungarn als Lösung empfehlen.
Vielen Dank!