25. September 2016
Katalin Nagy: Aber beginnen wir mit der gestrigen Pressekonferenz nach dem Flüchtlingsgipfel, auf der der ungarische Ministerpräsident nicht nur über das ungarische Quotenreferendum gefragt wurde. Übrigens hat Viktor Orbán beinahe auf den Tag genau vor einem Jahr eine Pressekonferenz in Wien gehalten. Damals stand er wegen des Zauns unter heftigstem Beschuss. Die Ereignisse haben an Geschwindigkeit zugenommen, Herr Ministerpräsident, oder treten wir immer noch auf der Stelle? Wie sehen Sie das eine Woche nach Pozsony [Bratislava], hier in Wien?
Sie haben an Geschwindigkeit zugenommen. Der eine Grund dafür ist, dass der Herbst kommt, und das bis dahin Italien quälende Hereinströmen der Migranten kehrt zurück auf die Balkanroute, es gibt also eine Verlagerung der Bewegung. Dies war auch im vergangenen Jahr so, und auch im Jahr davor. Andererseits haben die europäischen Menschen ihr Haupt erhoben und viele von ihnen wagen auch sich zu Wort zu melden. Dies ist für uns merkwürdig, weil wir waren nach vierzig Jahren Kommunismus doch daran gewöhnt, dass man wirklich frei sprechen, kommunizieren, die Meinung zum Ausdruck bringen, nur westlich von uns kann. Wenn jetzt aber zum Beispiel jemand in dieser Migrantenangelegenheit westlich von uns zu sprechen beginnt, dann überlegt er es sich interessanterweise dutzendfach, was er sagen soll und was nicht. Und wenn ich mir die öffentlichen Oberflächen ansehe, was für Meinungen dorthin gelangen, auf die Foren des Offiziellen oder der beliebteren Öffentlichkeit, dann sehe ich, dass es dort Mechanismen des Filterns gibt. Ich muss sagen, in dem vergangenen Jahr war es in zahlreichen Ländern Sitte, den Bürgern zu vermitteln: „Vertraue Deinen Führern, es kann sein, dass Du jetzt ihre Entscheidungen seltsam findest, aber sie werden alles lösen. Du musst Dich damit nicht beschäftigen, es wird gut werden.“ Und ein Jahr ist vergangen, und im Prinzip sagt man, es gibt ein Problem, weil es nicht gut geworden ist. Zweitens, wir haben nichts gelöst. Drittens, das Übel nimmt nur zu, und jetzt hat der Terrorismus, die Auflösung der öffentlichen Sicherheit auch schon mein Leben erreicht. Überhaupt, die Welt, in der ich bis jetzt ruhig leben konnte, hat sich plötzlich, im Laufe von zwei-drei Jahren um mich herum verändert. Eine andere Art von Menschen, eine andere Art von Kulturen, ein anderes Denken, andere Reflexe, plötzlich haben sich selbst auch noch unsere Städte verändert. Dies wagen die Menschen jetzt schon zu sagen. Sie haben das Gefühl, dass jetzt schon so viele der gleichen Meinung sind, dass sie ihre Meinung kundtun können. Insofern ist das öffentliche Leben in Westeuropa beweglicher geworden.
Ja, aber nehmen dies die Politiker zur Kenntnis?
Ja, ich glaube, dass wenn wir heute darüber sprechen, dass es jetzt eine Veränderung gibt, dann ist dies dem zuzuschreiben, dass auch die Politiker diese Erscheinung nicht in Klammern setzen können. Nun, bei uns ist das genauso. Wenn also die Menschen etwas denken und sagen, dann müssen wir damit etwas anfangen. Wir müssen antworten, reflektieren, verstehen, irgendetwas anderes erklären, oder das akzeptieren, was sie sagen, oder sie in die Entscheidung einbeziehen. Man kann also das Leben eines Landes nicht auf die Weise lenken, dass die in Fragen von grundlegender Bedeutung die Elite ihre Augen und ihre Ohren schließt, nach eigenem Ermessen handelt, und nicht sieht, nicht hört, was die Menschen sagen. Die Demokratie hat zahlreiche schwache Punkte, besitzt aber auch einige Schönheiten. Eine ihrer Schönheiten ist, dass wenn die Führer die demokratische Macht falsch handhaben, die Menschen diese dann zurückzunehmen pflegen. Und dies mag niemand, das können Sie mir glauben, ich spreche aus Erfahrung. Ein jeder möchte seine Arbeit anständig und unter allgemeiner Anerkennung verrichten, und man mag es nicht, wenn man weggeschickt wird. Dies ist eine motivierende Kraft für uns alle.
Gibt es nach Pozsony in den Entscheidungen, in den Verhandlungen hier in Wien tatsächlich einen Fortschritt?
Es gibt ihn. Zunächst dank der Vereinbarung mit den Türken, dem kraftvollen Auftreten der Balkanländer und der ungarischen Beharrlichkeit zusammen ist nun die Balkanroute geschützter. Nicht geschützt, denn jetzt, wenn die Route der Migranten sich von den italienischen Gewässern erneut auf den Balkan zurückverlegen wird, da werden wir sehen, dass wir noch mit sehr vielen Problemen zu kämpfen haben werden, doch sind wir inzwischen viel vorbereiteter als wie wir es auch nur vor einem Jahr noch gewesen waren. Wir haben auch Entscheidungen getroffen, und wir Ministerpräsidenten sind auch viele Male zusammengekommen, um zu besprechen, wo und wobei wir gemeinsam handeln könnten. Es gibt also jetzt einen Schutz- und Trutzbund zwischen den führenden Politikern der mitteleuropäischen Nationen, dass wir sehr wohl unsere Länder verteidigen werden, unsere Bürger schützen werden, unser Gebiet verteidigen werden, unsere Heimat verteidigen werden, nicht nur für uns, sondern auch für unsere Kinder. Es gibt eine übereinstimmende mitteleuropäische Meinung oder Entscheidung, nach der wir nicht das gleiche Schicksal erleiden wollen, wie so manche europäische Länder, die vielleicht in einigen Jahren sich selbst nicht mehr werden wiedererkennen können.
In einer Woche wird es in Ungarn eine Volksabstimmung geben. Kampagnen führen jene, die der Ansicht sind, dies sei eine dumme Frage, und Kampagnen führen auch jene, die meinen, es habe schon seit langem keine derart wichtige Frage gegeben, die gestellt und beantwortet werden musste.
Vermutlich gibt es, da wir verschieden sind, sehr viele Meinungen. Ich kann mir nur schwerlich eine wichtigere Frage als diese vorstellen. Die Fragen, ob wir der NATO oder der Europäischen Union beitreten sollten, worüber wir auch Volksabstimmungen durchgeführt haben, waren wichtige Angelegenheiten, doch kann man sie meiner Ansicht nach nicht mit dem Gewicht vergleichen, das die jetzige Frage darstellt. Wer darf darüber entscheiden, mit wem die Ungarn in ihrer eigenen Heimat zusammenleben? Dies ist wichtiger als jedwede Institution. Vielleicht besitzt die Volksabstimmung über die doppelte Staatsbürgerschaft, die eine nationale Angelegenheit solcher Bedeutung war, hinsichtlich ihrer historischen Bedeutung eine Ähnlichkeit mit dieser jetzigen Frage. Ich gehöre also zu jenen, die dies ernst nehmen, und ich würde auch meine Mitbürger dazu ermuntern, dass auch sie sie ernst nehmen. Denn wenn wir es jetzt einmal aussprechen und entscheiden, dass das Gebiet Ungarns aber nur der betreten und sich dort aufhalten darf, dem dies das durch uns gewählte Parlament, die Regierung oder irgend ein Organ der staatlichen Macht erlaubt, und wir akzeptieren über uns niemandes Wort, wir akzeptieren es nicht, dass irgendwer von außen uns befiehlt, dass wir diesen und jenen aufnehmen müssen. Wer meint, dies sei eine entscheidende Frage, der soll unbedingt kommen und bei der Volksabstimmung mit „nein“ stimmen.
Auch hier gab es mehrere Stimmen, die die Frage gestellt haben, was wird am 3. Oktober sein, wenn wir das Ergebnis wissen? Wird es eine öffentlich-rechtliche Konsequenz geben? Wie wird überhaupt die ungarische Regierung handeln?
Schauen Sie, eine Volksabstimmung ist eine ernsthafte Sache. Ich freue mich, ja ich bin stolz darauf, dass Ungarn ein Land ist, in dem die Menschen in dieser Frage nach ihrer Meinung gefragt werden. Ich behaupte nicht, dass die Volksabstimmung die einzige Form sei, in der man die Menschen fragen könnte. Auch wir haben schon uns die nationale Konsultation und andere Formen der Einbeziehung ausgedacht, doch in Europa gibt man den Menschen nicht die Möglichkeit, in dieser Frage ihre Meinung zu äußern. In dieser Frage können nur die ungarischen Menschen ihre Meinung mitteilen. Meiner Ansicht nach können wir hierauf stolz sein. Die öffentlich-rechtlichen Konsequenzen kommen dann dazu. Eine derart ernsthafte Angelegenheit wie eine Volksabstimmung kann nicht ohne öffentlich-rechtliche Konsequenzen bleiben. Es wird dort eine Frage geben, die wir entscheiden. Diese muss in irgendeiner Form in das ungarische Rechtssystem umgepflanzt werden. Dies ist das Minimum, das geschehen wird. Und dies wird eine der wichtigsten Regeln des ungarischen Rechtssystems nach der Volksabstimmung sein.
Ich war hier vor einem Jahr nicht bei der Pressekonferenz dabei, aber ich vermute, Sie haben vor einem Jahr viel mehr, ausgesprochen provokative und attackierende Fragen bekommen als jetzt. Es scheint im Laufe des vergangenen Jahres viel Wasser die Donau hinuntergeflossen zu sein?
Schauen Sie, ich mag es nicht, zu winseln, und auch das Brot der Salonoberklugen, die ständig darüber jammern, dass man sie auf die oder auf jene Weise attackiert, ist nicht mein Ding. Natürlich ist das menschlich zu verstehen, aber in diesem Metier, besonders im 21. Jahrhundert, angesichts der modernen technischen Errungenschaften, die auch in der Politik erschienen sind, gibt es hier keinen Platz mehr für das Jammern. Natürlich wird man angegriffen. Und man wird beobachtet, und man bekommt Schläge auf den Kopf, es wird versucht, mich von meinen Absichten abzubringen, ab und zu wird versucht, mich zu erniedrigen, damit man vielleicht mich damit seelisch verunsichern kann. Es gibt hier also alles, man lebt sein Leben in einem unentwirrbaren Netz der Beeinflussungsversuche, wenn man Ministerpräsident ist. Ich habe dies niemals als eine persönliche Sache betrachtet. Wenn man über mich gesagt hat, ich erzähle Dummheiten, war ich mir sicher, dass sie nicht denken, ich sei dumm, sondern ganz einfach meinen Standpunkt zu diskreditieren versuchen. Es ist also wichtig, dass man seelisch stark genug dazu ist, einen Unterschied zwischen der Sache und sich selbst zu machen. In der Politik sind die Angriffe keine persönlichen Dinge, auch wenn die Persönlichkeit des Menschen davon betroffen ist, auch dann nicht. So hielten wir es in dem vergangenen einen Jahr mit der Nationalpolitik. Als Ungarn attackiert wurde, wusste ich, dass sie in Wirklichkeit nicht Ungarn angreifen, sondern Angst davor haben, dass sich die ungarische Denkweise in Europa verbreitet. Als sie die Begründetheit des ungarischen Standpunktes in Frage stellten, dann taten sie dies nicht, weil sie Angst hatten, dass wir eventuell eine schlechte Entscheidung fällen, sondern weil sie dachten, eine neue Denkweise ist in Europa erschienen, für die es früher keinen Raum gab, und mit der sie nicht sympathisieren. So ist das Leben, wir leben in einer Demokratie, es existieren viele Meinungen gleichzeitig, unsere Meinung hatte nicht das notwendige Gewicht im europäischen öffentlichen Denken. Doch das vergangene eine Jahr hat uns bestätigt. Ich verspüre keine Genugtuung, obgleich es zweifellos gut ist, wenn die Zeit einen bestätigt, es ist viel besser, als wenn dies nicht geschieht, aber auch dies ist keine persönliche Angelegenheit, sondern ich freue mich, dass die Ungarn und auch die ungarische Regierung ausreichend beharrlich war, beharrlich waren, um unsere eigene Herangehensweise, unsere eigene Denkweise, unsere eigene Wirklichkeitserfassung, unseren eigenen Vorschlag, unsere eigene seelische Einstellung mutig zu vertreten wagten, und immer mehr Menschen in der ungarischen Meinung auch ihre eigene Meinung zu erkennen beginnen. Ich bin davon überzeugt, dass wir über die Ebene der Politik hinaus mit den von uns geführten Debatten Europa etwas Gutes getan haben.
Während ich mit einer österreichischen Journalistin auf Sie gewartet habe, haben wir uns unterhalten, und es war interessant, als sie erfuhr, woher ich gekommen bin, also dass ich ein ungarischer Journalist bin, da sagte sie: „Wir verstehen nun, was der ungarische Ministerpräsident sagt, und jetzt sind wir der Ansicht, man müsse so denken, wie er, nur sagt dies noch nicht ein jeder.“
Nun, schauen Sie. In Europa war das Leben in den vergangenen vierzig Jahren, auch wenn Europa seinen Wohlstand nicht im Lotto gewonnen hat, so doch viel bequemer und einfacher als in Mitteleuropa. Hier gelang es, den Wohlstand zu zementieren, ihn zu errichten, und seit langer Zeit ist man hier selten Fragen und Dilemmata begegnet, die den Wohlstand in Frage stellten. Es gab zwar eine Ölkrise, es gab zeitweise für einen kurzen Zeitraum einen Rückfall in der Wirtschaft, aber an sich war es ein bequemes, erfolgreiches Westeuropa und eine ebensolche westliche Welt. Hierin ist nun eine Veränderung eingetreten. Jedoch ist es nicht so einfach, aus einem als garantiert erfolgreichen, garantiert als weltbestes verbuchten Europabild in eine Welt hinüberzutreten, in der alles in Frage gestellt wird. Sind wir immer noch die besten? Warum nimmt Europas Anteil an der Gesamtproduktion der Welt ab? Warum gibt es laut der demographischen Kennziffern einen Niedergang der europäischen Bevölkerung? Warum treten derartige Störungen im Zusammenleben auf, wie wir sie derzeit im Laufe des Zusammenlebens mit den Migranten täglich erleben? Woher kommt der Terrorismus? Ist das nur ein Import, den unsere Feinde von außen hierher hereinwerfen, oder besitzt er irgendwelche Wurzeln auch hier drinnen unter uns? Dies sind alles Fragen, mit denen sich die europäischen Menschen nicht beschäftigen mussten. Das heißt die westeuropäischen Menschen mussten dies nicht in den vergangenen vierzig Jahren, und als wir das erste Mal als Mitteleuropäer mit einem derart geschärften Instinkt sagten, „Leute, daraus kann irgendein Problem werden, denn hier schäumt das Wasser, und das ist keine freundliche Sache, die sich da anbahnt“, da hat ein jeder gesagt, „Ach wo, ihr seid dumm, ihr seid erst jetzt Mitglieder der Europäischen Union geworden, ihr kennt dies noch nicht, das wird sich lösen. Europa ist immer in der Lage, sich selbst zu korrigieren, auch jetzt wird es so sein. Man muss nicht solch ein Aufhebens machen, alles kann so weitergehen, wie es bis jetzt gegangen war.“ Und jetzt hat sich herausgestellt, dass dem nicht so ist. Das Wasser schäumte, es war nicht freundlich, daraus sind sehr wohl gefährliche Wellen ans Ufer geprallt und jetzt müssen wir uns festhalten, damit wir nicht weggetrieben werden. Und das sieht jetzt ein jeder, ja man sagt sogar, nun ja, manchmal können auch die Mitteleuropäer Recht haben.