1. August 2019, Brüssel (Bruxelles)
László Mészáros: Herr Ministerpräsident, Sie haben sich das erste Mal mit Ursula von der Leyen seit ihrer Wahl getroffen. Wie bewerten Sie das Gespräch?
Wir haben eine in guter Stimmung verlaufende erfolgreiche Besprechung hinter uns. Es stimmt, dass ich persönlich jetzt das erste Mal mit der neuen Kommissionspräsidentin verhandelt habe, die zuvor die Familienministerin und dann die Verteidigungsministerin Deutschlands war. Telefonisch haben wir uns zwar früher auch schon abstimmen müssen, aber das war unsere erste persönliche Begegnung und Besprechung. Mit ungarischem Verstand und ungarischem Auge kann ich der ungarischen Zuhörerschaft sagen, eine deutsche Dame, eine ernsthafte deutsche Dame ist die Präsidentin der Europäischen Kommission geworden. Wir haben eine über ansehnliche Erfahrungen verfügende und mutig denkende Kommissionspräsidentin, die versteht, was in Mitteleuropa geschieht, die versteht, was wir sagen, und die versteht, was für die Ungarn wichtig ist. Insbesondere gilt dies für die Familie. Sie denkt so über die Familie wie wir Mitteleuropäer oder wir Ungarn: Die Familie ist wichtig, vielleicht am wichtigsten, das Kind steht an erster Stelle – wir sprechen über eine Familienmutter von sieben Kindern –, und wir müssen unsere Welt so einrichten, dass unsere Kinder in Sicherheit aufwachsen können. Der Ausgangspunkt, also der Ausgangspunkt für die Zusammenarbeit in den kommenden fünf Jahren ist viel versprechend. Hinzu kommt noch, dass wir jetzt über eine Kommissionspräsidentin sprechen, deren persönliche und leidenschaftliche Überzeugung es ist, dass die Europäische Union bestehen bleiben muss. Sie weist also jedwede Angelegenheiten, die die Mitgliedsstaaten der EU zueinander auf Distanz bringen würden, also sagen wir die Nördlichen zu den Südlichen, oder Mitteleuropa zu dem Westen, instinktiv zurück, und sie sucht danach, wie man die verschiedenen Teile Europas zusammenbringen könnte. Dies ist auch ein ungarisches Interesse, auch wir wünschen es uns, die verschiedenen Länder der Europäischen Union auf die Weise zusammenzubringen, dass dabei jedes Land das bleiben kann, was es ist; zum Beispiel soll Ungarn ein ungarisches Land bleiben dürfen. Ich habe das Gefühl, auch hier gibt es den gemeinsamen Ausgangspunkt. Hinsichtlich der Themen ist dies natürlich schon schwieriger, die Gewässer sind unruhiger, denn es ist sehr schwer, zwischen 28 Mitgliedsstaaten Eintracht in der Frage des Klimas, der Energiepolitik, der Wirtschaftspolitik oder gerade der der Migration herzustellen, doch habe ich den Eindruck, dass wir im Allgemeinen auch im Falle aller schwierigen und heiklen Fragen mit einer pragmatischen Annäherungsweise rechnen können. Es war also überhaupt nicht übertrieben, als wir formulierten, es sei uns gelungen, die ideologischen Guerillas von den wichtigen Posten fernzuhalten, und die pragmatischen, nach einer Zusammenarbeit strebenden Menschen zu Posten zu verhelfen. Diese ungarische Konzeption, diese Vorstellung der V4 ist – soweit ich das sehe – erfolgreich und für die Zukunft viel versprechend.
Herr Ministerpräsident, Sie haben die Sicherheit hinsichtlich der Familien erwähnt. Welchen Standpunkt nimmt die Frau Präsidentin auf diesem Gebiet im Zusammenhang mit der Migration ein?
Sie versteht den Unterschied, sie versteht, dass die Westeuropäer sich mit der Frage der Integration der Migranten beschäftigen, doch die Ungarn, doch Mitteleuropa möchte keine multikulturelle Gesellschaft erschaffen. Zugleich ist sie der Ansicht, dass nicht diese Diskussion geführt werden muss, sondern es lohnt sich, jene Debatten als erste zu nehmen, an deren Ende ein positives Ergebnis zu erwarten ist. Zum Beispiel stimmen wir darin überein, dass der Grenzschutz wichtig ist, also sprechen wir darüber. Wir stimmen darin überein, dass die rechtlichen Verfahren im Zusammenhang mit den Migranten auf die Weise und zu dem Zeitpunkt durchgeführt werden müssen, zu dem die Migranten sich noch außerhalb des europäischen Territoriums befinden. Sie stimmt auch dem zu, dass man sie nicht vor der Beendigung der Untersuchung ihres Falls frei auf dem Kontinent herumreisen lassen darf, sondern es muss irgendeine, den Bürgern Sicherheit garantierende, aber humane Lösung gefunden werden. Und auch darin, dass auf irgendeine Weise jene Menschen aus Europa zurückgeschickt werden müssen, in erster Linie natürlich aus Westeuropa, die im Übrigen nicht regulär, sondern unter der Verletzung der Rechtsvorschriften gekommen sind. In diesen Fragen stimmt also West- und Mitteleuropa überein, stimmen wir überein, und stimmen auch die die Migration unterstützenden Kräfte überein, es lohnt sich also, unsere Kräfte hierauf zu konzentrieren. Deshalb erwarte ich, dass die Debatten über die Migration in der Zukunft sinnvoller sein werden.
Im vergangenen Zeitraum sind im Zusammenhang mit den Klimazielen die Diskussionen innerhalb der Europäischen Union heftiger geworden. Welchen Standpunkt nimmt auf diesem Gebiet die Frau Präsidentin ein, wie kann ihr Standpunkt mit den Vorstellungen Ungarns in Einklang gebracht werden?
Wir sprechen über eine Kommissionspräsidentin, die – nachdem sie Familienministerin in Deutschland war – die Zukunft auch mit den Augen ihrer Kinder sieht. Das Klima ist also wichtig für sie. Das ist für uns ebenfalls gut, denn auch die ungarische Regierung besteht grundlegend aus Vertretern von großen Familien, und wenn wir unsere Entscheidungen treffen und über die ungarische Zukunft nachdenken, dann endet unser Denken nicht mit dem biologischen Abschluss oder dem zu erwartenden Zeitpunkt des Endes unseres Lebens, sondern wir blicken weit darüber hinaus, wir denken auch darüber nach, was mit dem Ungarn geschehen wird, das unsere Kinder von uns erhalten und in dem sie dann leben werden. Auch diese Herangehensweise ist ähnlich. Deshalb gibt es also auch in der Klimapolitik die gemeinsame Grundlage, es besteht das Gefühl unserer gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft. Zugleich ist klar, dass die reichen Länder mit Leichtigkeit schwerwiegende Aussagen treffen können. Ein Land von der Größe und der Wirtschaftskraft Ungarns muss davon leben, dass es das ernst meint, wenn es etwas sagt. Das gilt auch für das Klima. Was wir jetzt sagen, ist: Wir werden bis 2030 eine Abnahme des Kohlendioxidausstoßes erreichen. Wir haben ein festes Ziel, und dazu haben wir einen Plan, wir wissen genau, auf welche Weise wir an das Ziel gelangen werden. Das wird nicht einfach sein, das erfordert auch eine Umformung der ungarischen Wirtschaft, das besitzt seine Kosten, doch bis 2030 sehen wir dies genau, und ich kann ruhigen Gewissens sagen, dass wir in Ungarn bis 2030 neunzig Prozent der Energie aus Quellen gewinnen werden, die kein CO2 beinhalten. Hier möchte man jetzt weiterschreiten, und es lastet Druck auf uns, zu deklarieren, bis 2050 würde Ungarn sehr wohl zu einem Land werden, in dem es überhaupt keinen Ausstoß von CO2 geben wird. Ich bin dazu bereit, dies irgendwann einmal auszusprechen, aber ich sehe zurzeit aus dem Grund keinerlei Möglichkeit für uns, dies zu deklarieren, denn das Ziel gibt es zwar, doch gibt es keinen Plan dazu. Wir müssen also jetzt einen Plan dafür zusammenstellen, wie wir – wenn wir tatsächlich bis 2050 ein Energiesystem frei von Kohlendioxidausstoß in Europa oder in Ungarn haben wollen – dorthin gelangen, was unser Plan ist. Heute sehe ich dies nicht einmal in Ansätzen, und auf diese Weise kann man nur verantwortungslos reden. Deshalb denke ich, meine Aufgabe als Ministerpräsident Ungarns ist es, dass unser Wort Gewicht besitzen soll, und den Worten jedes einzelnen und denen eines Landes gibt das Verantwortungsgefühl Gewicht. Ungarn arbeitet jetzt also daran, und wir drängen auch unsere Partner, daran zu arbeiten, wie wir es erreichen wollen, dass 2050 das ungarische Energiesystem keinen CO2-Ausstoß mehr haben soll. Das ist möglich, nur müssen die industriellen Technologien durch modernere Formen ersetzt werden. Das kostet sehr viel Geld, wenn ich also über einen Plan rede, da rede ich auch über Geld, denn dies muss finanziert werden, zum Beispiel durch den nächsten sieben Jahre umfassenden Haushalt der Europäischen Union. Wenn wir es also ernsthaft meinen, dass es in Ungarn bis 2050 keinen CO2-Ausstoß geben soll, dann müssen wir den hierzu notwendigen Technologiewechsel nicht nur in Ungarn, sondern auch anderswo zumindest zum Teil aus Quellen der Europäischen Union finanzieren. Doch hierüber haben wir noch keinerlei Plan gesehen, deshalb bin ich ausgesprochen dagegen, in diesem Augenblick Ziele zu benennen, deren Lösungswege, die uns zum Ergebnis führen, wir heute noch nicht sehen können. 2030 ist also in Ordnung, bis 2030 werden wir ein zu 90 Prozent vom CO2-Ausstoß freies Energiesystem haben, und wie wir den übriggebliebenen Rest verschwinden lassen, das wird zwischen 2030 und 2050 eintreten. Aber um uns hierzu zu verpflichten, dazu werden wir einen Plan, auch einen Finanzplan benötigen.
Herr Ministerpräsident, damit Ursula von der Leyen eine effektive Präsidentin der Europäischen Kommission sein kann, braucht sie auch eine gute Kommission. Ist der Name des ungarischen EU-Kommissars auf Ihrem Treffen zur Sprache gekommen?
Am Rande, da wir nicht hierhergekommen sind, um einen Handel abzuschließen, sondern um zu erfahren, welche Vorstellungen die Frau Präsidentin für die kommenden fünf Jahre hat. Das war wichtiger als jede Personalfrage. Natürlich habe ich zur Sprache gebracht, Herr Professor Trócsányi, der unser Justizminister war, steht in Ungarn nicht zufällig an erster Stelle der Liste des Fidesz und der Christlich-Demokratischen Volkspartei. Er hat die Liste angeführt, weil wir den Menschen gesagt haben, wenn sie für uns stimmen, dann wird er dann der Kommissar Ungarns in der Kommission sein, und deshalb werden wir ihn auch nominieren. Das habe ich selbstverständlich der Frau Präsidentin mitgeteilt.
Zusammenfassend möchte ich Sie noch fragen, Herr Ministerpräsident, ob es auf Grund all dessen, was Sie jetzt im Rahmen Ihres Treffen mit der Frau Präsidentin gehört und erlebt haben, es eine gute Entscheidung der V4 und Ungarns war, sich für Ursula von der Leyen auszusprechen?
Mit Sicherheit war es eine gute Entscheidung, die ideologischen Guerillas fernzuhalten. Es war auch eine gute Entscheidung, pragmatisch eingestellte Personen in die Führungspositionen zu wählen. Es war auch eine gute Entscheidung, einen Menschen zu wählen, dessen Gedanken über die Zukunft die gleichen Fragen beinhalten, wie wir sie in unseren Köpfen haben: unsere Kinder, unsere Familie, die Zukunft unserer Nation, die Sicherheit. Wir sprechen hier über eine ehemalige Verteidigungsministerin, die im Übrigen – und hierin stimmen unsere Absichten überein – auch einen Akzent auf die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Streitkraft oder Rüstungsindustrie setzt. Es war also auch eine gute Entscheidung, einen Menschen zu wählen, der sich für solche Themen interessiert. Es ist wichtig, dass es ein Mensch ist, der sich auch an die heiklen Fragen auf sensible Weise annähert, der sich zum Beispiel auch an die Angelegenheit der Migration mit den Köpfen der Mitteleuropäer denkend annähern kann. Ich kann also sagen, dass wir eine gute Entscheidung getroffen haben, doch wie wir das in Ungarn mit unseren historischen Erfahrungen zu sagen pflegen: „bisher“. Was hiernach geschehen wird, das werden wir dann sehen. Aber soviel kann ich mit Sicherheit sagen: Wir haben heute viel bessere Chancen zu vernünftigen Lösungen bzw. dazu, zu diesen zu gelangen als wir sie früher hatten und als wir sie im Falle jeder anderen Person an der Spitze haben würden.
Ich danke Ihnen sehr.
Auch ich bedanke mich.