Rede von Viktor Orbán anlässlich der Feierlichkeiten zur Erneuerung der Parzelle der gefallenen ungarisch-jüdischen Helden auf dem Friedhof in der Kozma Straße.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Anwesenden!
Wir haben uns heute auf dem jüdischen Friedhof in der Kozma Straße versammelt, um anlässlich des hundertsten Jahrestages der Befreiung des Uzsoker-Passes unsere Häupter vor den im Ersten Weltkrieg gefallenen ungarisch-jüdischen Soldaten zu verbeugen. Zwar erweisen wir unseren Respekt hier und jetzt vor den Heldentoden des Ersten Weltkrieges, jedoch können wir dies nicht tun, ohne auch ein Wort der Erinnerung an die ungarisch-jüdischen Opfer der Konzentrationslager des Zweiten Weltkrieges zu äußern. Am morgigen Tag werden wir uns in Auschwitz unter Beteiligung der ungarischen Regierung, die den Schmerz und den Verlust des ungarischen Volkes übermitteln wird, an die Opfer des Holocaust erinnern. Dies ist die Tragödie der ungarischen Nation und ein niemals wieder gutzumachender Verlust für die ungarisch-jüdische Gemeinschaft. Während im Ersten Weltkrieg die Beförderung der Soldaten in unserer Armee ohne Rücksicht auf deren Abstammung erfolgte, waren wir zweieinhalb Jahrzehnte später ohne Liebe und gleichgültig und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem wir hätten helfen müssen, und zahlreich, ja sogar sehr zahlreich waren die Ungarn, die das Schlechte anstelle des Guten und die Schande anstelle der Ehre gewählt haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
In Ungarn sprechen wir nun hundert Jahre nach diesen Ereignissen immer noch in unwürdiger Weise zu wenig über die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten. Über die an den Fronten stattgefundenen Schlachten wurde selbst nach der politischen Wende in den Geschichtsbüchern immer noch auf eine Weise erinnert, als hätten diese keine Helden, sondern lediglich Opfer hervorgebracht. Jedoch ist die Bezeichnung eines im Krieg gefallenen Soldaten lediglich als Opfer eine nicht wieder gutzumachende und unwürdige Degradierung. Wir, die Bürger einer glücklicheren Zeit blicken auf die Soldaten als Helden, die im feindlichen Geschützfeuer, in meterhohem Schnee, im halbzugefrorenen Bach, über Wege, die zu Meeren aus Schlamm geworden sind, kilometerweit marschiert sind, um am Ende dieses Weges, der für die Menschen zur Probe wurde, gegen die ständige Übermacht des Feindes zu kämpfen. Wir müssen diejenigen als Helden anerkennen, die viele Monate in Schützengräben, die von Schneeverwehungen überdeckt oder vom Regen überflutet waren, gelebt und gekämpft und damit ihre Heimat verteidigt haben. Wir sollten sie schon deshalb als Helden ansehen, weil der Krieg, der als Straf-Feldzug begonnen hatte, sich bereits am Ende des ersten Jahres in einen wahrhaften Krieg zur Verteidigung des Vaterlandes umgewandelt hatte, in welchem unsere Soldaten die Aufgabe übernehmen mussten, den Feind von der Türschwelle ihrer Heimat und sogar ihres eigenen Hauses zu vertreiben. Schmerzerfüllte Seiten ungarischer Geschichte zeugen davon, was es für das Land bedeutet hat, als das feindliche Heer schließlich die Bergpässe in den Karpaten passierte. Wenn die in den Karpaten aufgebaute Schutzlinie in den Jahren 1914 und 15 gefallen wäre, wäre aus der ungarischen Tiefebene ein militärisches Operationsgebiet und aus Budapest eine belagerte Stadt geworden. Dies ist damals deshalb nicht geschehen, weil wir einen hervorragenden Verteidigungsminister, Baron Samu Hazai hatten, der zur Unterstützung der Nordfront eine – nahezu aus dem Nichts bereitgestellte – Verstärkung mit 70 Tausend Mann gesandt hat, und sich dann in einem glücklichen oder viel eher inspirierten Moment entschlossen hat, Sándor Szurmay an die Spitze der neuen Heeresgruppe zu stellen. Szurmay und sein Armeekorps waren bereit, bis zur letzten Patrone und bis zum letzten Mann um die Karpaten zu kämpfen. Vor hundert Jahren gelang es diesen Männern schließlich bei Temperaturen von -20 Grad, nach einer dreitägigen Schlacht das Tor ins Land, den Uzsoker-Pass, von den Russen zurückzuerobern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wir können sogar davon ausgehen, dass die Verteidigung des Landesgebietes weder in jenem Winter, noch in späteren Zeiten kaum ohne die Heldenhaftigkeit und Opferbereitschaft der ungarisch-jüdischen Gemeinschaft gelungen wäre. Ihre Vorfahren, die sich zum Frontdienst verpflichteten Soldaten und Ärzte, sind bis zuletzt dem Bekenntnis treu geblieben, wie dies in den Stunden der Mobilmachung in einer Ihren Zeitungen wie folgt ausgedrückt wurde: „Unsere ungarisch-jüdischen Brüder! Wir sind mit unserer Nation mit Herz und Seele verschmolzen und eins geworden. Für dieses heilige Land, für diese große und edle Nation bieten wir enthusiastisch auch unser Leben an.” Bis heute kennen wir nicht die genaue Zahl der in diesem Krieg gefallenen ungarisch-jüdischen Soldaten, aber über das verheerende Ausmaß des Verlustes sagt bereits die Tatsache sehr viel aus, dass allein aus der jüdischen Bevölkerung von Budapest viertausend Menschen gestorben waren.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Aus der Distanz von hundert Jahren müssen wir für die im Krieg geopferten und für den Frieden geretteten Leben unseren Dank aussprechen. Am Grabmal eines der hier bestatteten Helden ist zu lesen: „Gefallen für sein Vaterland, seine Brüder, für das ungarische Judentum!” So wie wir heute hier zwischen diesen Gräbern stehen, ist all das, was uns vor siebzig Jahren zugestoßen ist, unfassbar. Der Weg, der von der heldenhaften ungarisch-jüdischen Kameradschaft des Ersten Weltkrieges bis hin zu den Konzentrationslagern geführt hat, ist kaum fassbar. Wenn wir zwischen diesen Gräbern gehen, ist es für uns ebenfalls unfassbar, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg in Ungarn ein politisches System gegeben hat, das sogar die Erinnerung an die hier begrabenen Soldaten auslöschen wollte. Ganze Armeen sind dadurch von den Friedhöfen und aus den Archiven getilgt worden. Man hat den Heldenfriedhof in Rákoskeresztúr ausgelöscht, und die Gräber von achtzehntausend Helden zerstört, darunter auch die Gräber von zehntausend ungarischen Soldaten, wobei gleichzeitig auch die Mehrheit der offiziellen Archive vernichtet wurde. Die Soldatengräber, die diese Zerstörung überstanden haben, wurden dem alles verschlingenden Unkraut und dem Verfall überlassen. Am hundertsten Jahrestag dieses Weltkrieges ist es unsere moralische Pflicht, nach Gräbern zu forschen, die noch existieren, und eine Datenbank aufzubauen, in der die Namen unserer gefallenen Soldaten bewahrt bleiben. Dieser moralischen Verpflichtung sind wir nachgekommen, als wir beschlossen haben, die Gräber der Helden, die auf dem jüdischen Friedhof in der Kozma Straße ruhen, zu erneuern. Meiner Überzeugung nach kann eine Gemeinschaft nur dann stark bleiben, wenn sie die Erinnerung an Ihre Angehörigen bewahrt. Nur die Gemeinschaft findet eine eigene Heimat in dieser immer und immer wieder erschütterten Welt, die die Opfer, die für sie erbracht worden sind, schätzt. Das im Ersten Weltkrieg erbrachte Opfer des ungarischen Judentums spielt eine bedeutende Rolle darin, dass das Land Ungarn in der Lage ist, sich immer wieder aufzurichten, und darin, dass die vitale Kraft unserer Nation nicht erlischt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Europa hatte viel daran zu arbeiten, bis der Kampf, den seine Nationalstaaten gegen einander ausgetragen haben, schließlich durch Erinnerung in Frieden umgewandelt werden konnte. Wir dürfen aber dennoch niemals vergessen, dass wir diesen Frieden Tag für Tag erneut verteidigen müssen, damit es uns nicht so ergeht, wie den schlafwandelnden Staatsführern des Jahres 1914, die bereit waren, den Frieden so leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Vor 1914 gab es keinen einzigen Menschen, der es im Voraus hätte wissen können, dass Europa, das für die damalige Zeit ein unvorstellbares Niveau der wirtschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklung erreicht hatte, an der Schwelle eines Jahrhunderts steht, das nicht das Jahrhundert des Friedens und des Wohlstandes, sondern eines des blutigsten Jahrhunderts aller Zeiten werden sollte. Diese Soldatengräber sollten uns als ewiges Memento dienen, die uns daran erinnern, dass in den externen und internen Konflikten Europas die Entscheidung nie mehr den Waffen überlassen werden darf.
Ehre sei den Helden!